Im Hamsterrad
„Pinneberg und der junge Mann sehen sich…“ – „… an“, ergänzt der junge Mann, Sachbearbeiter der Krankenversicherung. Raiko Küster spielt den Johannes Pinneberg: „Beide haben saubere Nägel und beide sind Angestellte.“ – „Aber beide sind Feinde!“, stellt klipp und klar der Vertreter der Versicherung fest. „Denn einer sitzt hinter der Barriere und der andere steht davor.“
Auflösung der Solidargesellschaft, wachsender Armutsanteil in der Bevölkerung, drohende Arbeitslosigkeit, der finanzielle Überlebenskampf des kleinen Mannes in der Krise: Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“ aus dem Jahre 1932 bietet einen Stoff, der heute noch hochaktuell ist - Kapitalismuskritik und Blick auf die alltägliche Gier inklusive. Der sozialkritische Stoff wird ausgebreitet auf der Folie einer zuckersüßen Liebesgeschichte. Die allerdings kann gemeinsam mit der etwas betulichen Sprache und dem gutmenschelnden Blick auf die Figuren bei einer heutigen Dramatisierung für das Theater zum Problem werden: Pinneberg und sein Lämmchen, die bei der Verteilung von Gottes Gaben und Talenten nicht oft genug „Hier!“ geschrien haben und das auch wissen, sind ein so ungeheuer sympathisches, unerschütterlich positives, trotz kleiner Tricks, die sie zur Sicherung des Überlebens anwenden müssen, grundehrliches Paar, dass eine naturalistische Inszenierung in Nettigkeit und Harmlosigkeit zu ersticken droht: Die wird dann zur naiven Malerei auf der Bühne. Luk Percevals fünfstündige, vergleichsweise statische Inszenierung an den Münchener Kammerspielen, überraschend im Jahre 2010 zum Berliner Theatertreffen eingeladen, wäre in diese Falle getappt, wenn sie nicht durch unübertreffliche schauspielerische Leistungen und ein herausragendes Bühnenbild gerettet worden wäre. In Bochum schwärmen die Älteren noch von Peter Zadeks 40 Jahre alter Fassung: Der hatte gemeinsam mit Tankred Dorst die Geschichte in eine schmissige Revue-Form gegossen, und der Schreiber dieser Zeilen, damals 18 Jahre alt, erinnert sich heute noch begeistert an Hannelore Hoger als Lämmchen. David Bösch kämpft bei seiner Neuinszenierung also gegen Vorbilder an, gegen die kaum zu gewinnen ist.
Bösch und seine Dramaturgin Sabine Reich haben den Stoff auf gut zweieinhalb Stunden reduziert und den Text auf ganze vier Schauspieler verteilt (München benötigte neun, Zadek 25!). Eine Vielzahl von Handlungssträngen wurde dadurch gestrichen, andere wurden radikal gekappt. Die unerschütterliche Liebe zwischen Lämmchen und Johannes Pinneberg, die durch alle Widrigkeiten im Umfeld nicht zu gefährden ist, tritt dagegen stärker in den Vordergrund. Liebevoll geraten auch ein paar hübsche Szenen, die uns unterhalten und unsere Sympathie für die Protagonisten absichern sollen: Die ungeschickte Kochshow der Maja Beckmann als Lämmchen; die kleinen Gesten zum Publikum, zur Licht-Regie, als Johannes und Lämmchen sich einmal ungestört zum Schäferstündchen zurückziehen wollen; das „Sterntaler“-Spiel, als Pinneberg seinem Lämmchen immerhin einmal einen Taler, wenn auch nur einen einzigen, mitbringen kann, oder – etwas kabarettistischer - der Anruf aus dem Kreißsaal, als der nervöse Johannes auf die Vollzugsmeldung von der Geburt seines „Murkel“ wartet. Das alles wirkt ganz nett, hat einen braven, harmlosen Humor – aber es entlockt uns selten mehr als ein mildes Lächeln. Leider liegt die gleiche Unschärfe in den sozialkritischen Szenen, die politische Sprengkraft haben könnten: Die Einführung aggressiver, kaum zu erreichender Verkaufsziele in der Firma Mandel, bei der Pinneberg eine Anstellung gefunden hat; die Kündigung, die brüchige Loyalität zwischen den Verkäufern – all das wird routiniert, auch mit ein paar Witzchen gespielt, aber es berührt uns nicht recht. Den Transfer aus den 30er Jahren ins Heute schafft die Inszenierung nicht. Nur ab und zu merken wir auf: bei schönen, treffenden Fallada-Sätzen: „Man kann sich nicht immer nur treten lassen“, sagt Pinneberg ohne rechte Überzeugung, und sein Lämmchen, längst nicht mehr nur das brave Schaf, sondern die starke Persönlichkeit in dieser Beziehung, antwortet: „Nein, die wir treten können, die wollen wir nicht treten.“ Was für ein hellsichtiger, aber auch gutherziger Satz über die Machtverhältnisse im einfachen Volk!
So bleibt die Inszenierung in routiniertem Handwerk stecken. Ein Kunstwerk ist dagegen die großartige Bühneninstallation von Thomas Rupert: Eine primitive Wohnküche steht in einer rauen, asymmetrischen schwarzen Halde, die an einen Kohlenhof denken lässt und eine Verbindung zwischen dem Berlin der Original-Story und dem ärmlichen Ruhrpott herzustellen scheint. Dominierend aber ist eine riesige Weltkugel aus Haushaltsschrott: aus alten Stühlen, Eimern, Lampen, Schallplatten, einem Radio und – als Sehnsuchtssymbol? – einer Königskrone. Wenn Pinneberg und Lämmchen sich wieder einmal in ihrer unzerstörbaren Liebe zusammenfinden, dreht sich diese Kugel, und einzelne Bestandteile beginnen zu leuchten. Die Krone aber, das einzige Symbol von Reichtum und Macht in all diesem Schrott, bleibt dunkel.
Während Nicola Mastroberardino seine vielfältigen Rollen als Jachmann, als Organisator, als Angestellter und Verkäufer als schrille Karikaturen ausgestaltet und Henriette Thimig als Mutter Pinneberg die Parodie einer alternden, etwas verworfenen Lebedame abliefert, bleiben die Figuren der beiden Hauptdarsteller eher naturalistisch. Maja Beckmann gibt ein anrührendes, herzerwärmendes Lämmchen. Sie vermag ihrer Figur nicht nur verschiedene Facetten zu geben, sich auch einmal in Wut zu steigern, wenn Johannes das Sparsamkeitsziel verfehlt; nein, unmerklich entwickelt sie ihre Emma Mörschel von einem unbedarften, anspruchslosen und unselbständigen Mädchen zu einer die Geschicke der Familie aus dem Hintergrund lenkenden verantwortungsbewussten jungen Frau. Raiko Küster vermittelt glaubwürdig den biederen, talentfreien kleinen Angestellten, der vergeblich im Hamsterrad strampelt, ohne voranzukommen. Mastroberardinos Texte als Organisator und Prozessoptimierer stecken voller krauser Anglizismen – immerhin hatten sowohl die Wirtschaftskrise in der Entstehungszeit des Romans als auch die Finanzkrise des Jahres 2008 ihren Ursprung in den USA, und auch das auf kurzfristigen monetären Erfolg gerichtete Konkurrenzdenken mancher Akteure in der heutigen Wirtschaftswelt entspringt eher angloamerikanischen Verhaltensweisen als der Philosophie der sozialen Marktwirtschaft. Hier also macht die Aufführung endlich einmal ein Angebot zum Transfer des Gesehenen auf die gesellschaftliche Realität des 21. Jahrhunderts. Einen Blick auf aktuelle politische Verhältnisse und Risiken erlaubt auch Pinnebergs Monolog zum Ende: auf Armut und Arbeitslosigkeit, auf die Zehntausende, denen es schlechter geht als Pinnebergs: „Minister halten Reden an mich … Wen interessiert denn das?“ – Lämmchen und Pinneberg sitzen eng umschlungen am Rand der Bühne – und Lämmchen muss wieder einmal niesen in ihrer feuchten Billigwohnung. Ganz hinten humpelt die alte Henriette Thimig zum wiederholten Male im abgewetzten rosafarbenen Kleid, einem Wiedergänger des Kleids der jungen Emma, und niest gleichzeitig. Viele Jahre später – doch geändert hat sich nichts.