Die Caster Semenya des Spießruten-Laufs
Das Ende vorm Anfang: Hochzeitsfeier in irgendeinem etwas zu großen Saal in irgendeinem etwas zu sterilen Interconti-Hotel. Tante Olivia singt con somma espressione, aber in etwas zu schiefen Tönen Frank Sinatra, und der Brautvater hält eine wenig einfühlsame Rede, die den Beginn von Was ihr wollt zitiert. Und plötzlich spürt die Braut wohl, was wir Otto Normalverheirateten meist erst nach den ersten Ehejahren begreifen. Sie realisiert vielleicht, dass es Projektionen sind, die man im Stadium der Verliebtheit auf den Partner wirft, bekommt vielleicht eine böse Ahnung von den unrealisierbaren Wünschen aller Ehepartner: „Du sollst so sein, wie ich dich haben will.“ Und spürt: „Ich bin nicht, was ich bin.“ Viola rastet aus. Holt einen Feuerwehrschlauch und spritzt die ganze verlogene Bagage von der Bühne.
Enter Ghosts. Zwei Doppelgänger tauchen auf: links eine zweite Braut, rechts ein Viola zum Verwechseln ähnlicher junger Mann. Mit Feuerwehrschläuchen in den Händen. Die nett klimpernde Partymusik steigert sich zum Punk Rock, und wenn es in den Ohren tutet, wird die Bühne überflutet: 17000 Liter Wasser benötigt die Inszenierung angeblich jeden Abend. Viola wird hinweggeschwemmt, findet sich wieder als Schiffbrüchige am Strand von Illyrien. Welcome to the world of William Shakespeare.
Die Musik, teils live, teils vom Band gespielt, hat sich hinübergerettet nach Illyrien und sie spielt eine große Rolle in Roger Vontobels Inszenierung am Schauspielhaus Bochum. Natürlich wird es in Illyrien lustig, wie es in Shakespeares Buche steht, aber die Musik spielt auch Lieder von tiefer Melancholie. Einer Melancholie, die ebenfalls im Buche steht, wenn man genauer hinsieht. Und gerade in den nonverbalen Szenen geht Keith O‘Briens Sound-Collage mit den Bildern und den Seelenzuständen der Figuren eine perfekte Symbiose ein. Michael Schütz als Herzog Orsino singt am Flügel ein wunderschönes, absurd-lyrisches Liebeslied. Die Gräfin Olivia, das Ziel seiner Liebe, sitzt derweil als perfekte Cocktailbar-Schickse im Poolsessel und will ums Verrecken nichts von ihm wissen, verliebt sich aber im Handumdrehen in den schönen Überbringer von Orsinos Liebesbotschaften, den zarten Knaben Cesario. Als solcher hatte sich Viola verkleidet und war zielstrebig und karrierebewusst auf direktem Weg vom Schiffbruch zum Hof des Herrschers marschiert, um des Herzogs Herz und Hand zu gewinnen. Verkleidet: als Mann, als Page, als Kammerdiener. Da ergeben sich dann alle möglichen lustigen Verwechslungsszenen. Vontobel aber sieht auch die andere Seite: die tragische. Wer hätte schon gedacht, dass uns an diesem Abend hinter oberflächlichem Gelächter ständig Jeffrey Eugenides‘ „Middlesex“ im Kopf herumspuken würde. Die – bei Eugenides halbwegs versöhnlich endende – Geschichte eines Hermaphroditen mit all seinen Kämpfen um die Identitätsfindung. Dass wir uns mitten in einer Shakepeare-Komödie fragen, ob Viola möglicherweise die Caster Semenya eines illyrischen Spießrutenlaufs ist.
Roger Vontobel hat für diesen Röntgenaugen-Blick auf das Stück die ideale Hauptdarstellerin. Jana Schulz, Karatekämpferin mit männlich ausgeprägter Muskulatur und lockend-androgyner Erotik, mit weiblichen Formen und durchtrainierten, maskulinen Sportler-Bewegungen, ist eine Schauspielerin, der man die Transgender-Thematik unmittelbar abnimmt, die Männlein wie Weiblein gleichermaßen überzeugend und parodiefrei verkörpern kann. Und sie spielt, wie wir sie kennen: kraftvoll, mit unbändiger Energie und geradezu manischer Rollenidentifikation. Immer wieder flammt die Verzweiflung ihrer Viola über die Geschlechterverwirrung auf. Möglicherweise unbewusst ist sie ihren Identitätszweifeln gefolgt, als sie sich am Strand von Illyrien in einen Mann verwandelt hat, um sich so dem Herzog leichter nähern zu können. Kurz darauf erkennt sie erschüttert: Kleider machen Leute, sogar Männer aus Frauen: „Verkleidung, in dir steckt Niedertracht, ein Teufelswerk bist du, das alles durcheinanderbringt…“ – Die Doubles tauchen wieder auf in dieser Szene, die männliche und die weibliche Viola. Viola hat bei Shakespeare auf hoher See ihren Zwillingsbruder Sebastian verloren – bei Vontobel ist Sebastian nichts als ein Alter Ego der jungen Frau, die maskuline Seite der zwiegeschlechtlichen Figur, und wird ebenfalls von Jana Schulz verkörpert. „Steh‘ ich mir selber gegenüber?“, fragt Viola erschüttert. Immer stärker wird der Druck, sich zu einer Geschlechts-Identität zu bekennen, am besten gar „zu sein, wie man sie haben will“: Frau wollte Viola schon in der Hochzeits-Szene zu Beginn nicht bleiben, dem von ihr geliebten Orsino präsentiert sie sich bis zuletzt als Mann, doch am stärksten wird der Druck, als Olivia, die ihr drängendes Verlangen nicht mehr beherrschen kann, ihr im Hochzeitskleid begegnet: ihr, der Viola, denn den Sebastian, den Olivia bei Shakespeare auf wundersame Weise abkriegt, gibt es ja nur als deren Zweitidentität. Und Orsino, der sich durch das Verkleidungsspiel betrogen sieht, drückt auch noch auf die Tube: „Das Lamm, das ich so liebte, will ich schlachten.“
Was tatsächlich gelingt. Als sich die Verwechslungskomödie eigentlich so langsam dem Happy End zuwenden sollte, wirken Orsino und Olivia wie Zombies: sie mit blutrot geschminktem Mund und schwarz verschatteten Augen, er in unvorteilhaftem grauem Mantel und Unterhose. Die Doppelgänger sind noch einmal da. Und Viola-Sebastian-Cesario liegt im Wasser. Tot. An den unerfüllbaren Wünschen und Projektionen ihrer Umwelt und an völligem Identitätsverlust ertrunken.
Das klingt alles ganz furchtbar tragisch, und bei Lichte betrachtet, ist es das auch. Aber Roger Vontobel bedient natürlich die Shakespeareschen Komödien-Mechanismen mit all dem Einfallsreichtum, den wir von dem jungen Theatermagier kennen. Natürlich sind alle Figuren – einschließlich Herzog und Gräfin – ein wenig verrückt, natürlich geben Matthias Redlhammer und Florian Lange ein wunderbares Narrenpaar als Tobias Rülp und Andrew Bleichenwang (auch der dümmliche Junker deutet übrigens in Frauenkleidern die sexuelle Verwirrung an, die Stück und Inszenierung beherrscht). Und vor allem gibt es den grandiosen Malvolio des Martin Horn: von lakonischer Misanthropie, verdrießlicher Pedanterie und snobistischer Eigenliebe. Seine Strumpfband-Show vor der von der durch Bleichenwang, Rülp und das Hausmädchen Maria inszenierten Intrige nichts ahnenden Olivia ist eine komödiantische Glanzleistung von selten gesehenem Format – eingesperrt in eine dunkle Kiste entschwebt Malvolio später zur grenzenlosen Erheiterung des Publikums in den Nachthimmel. Selbst der Narr Feste, die einzige vernünftige Figur in diesem Stück, von Jutta Wachowiak als altersweiser, gütiger Berater der durchgeknallten Charaktere des Stückes gespielt, schüttelt sich vor Lachen: aber anders als bei Bleichenwang, Rülp oder Maria denunziert das menschenfreundliche Lachen des Narren nicht.
Auch wir lachen viel in diesem Stück, so wie es sich gehört. Und spüren doch stets die Melancholie der Inszenierung und die Tragik der Hauptfigur. Die heiratsunwillige Viola war, wie es der Aufführungs-Dramaturg Thomas Laue ausdrückt, in Vontobels Stückfassung nach Illyrien gespült worden wie Alice ins Wunderland. Düsterer noch könnte man denken: Sie erlebt ihre Abenteuer in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod wie der Titelheld in Hans Fricks „Mulligans Rückkehr“. Weggeschwemmt, Herzinfarkt auf der Flucht vor einem Leben mit unklarer Gender-Identität, vor einem Leben, in dem sie sein soll, wie wir sie haben wollen. Grandios!