Herr Puntila und sein Knecht Matti im Köln, Schauspiel

Ein Hut für Ascot

Auf eines kann man sich bei den Inszenierungen von Herbert Fritsch verlassen: Egal wie furchtbar man die Aufführung auch gefunden hat, man geht immer gut gelaunt nach Hause. War man auch zwischendurch grimmig entschlossen, keinen Finger zum Applaus zu rühren: Am Ende sitzt man da, strahlt von einem Ohr zum anderen und verfällt in rhythmisches Klatschen. Es sei eine besonders geschickte Form von "fishing for compliments", dachte ich bei meinen ersten Fritsch-Erfahrungen – mittlerweile glaube ich an eine Art Massen-Hypnose. Nichts hinterlässt einen seliger, als wenn Herbert Fritsch den Schluss-Applaus inszeniert.

Der Kölner Puntila und sein Knecht Matti ist, nehmen wir es vorweg, eine von Herbert Fritschs schwächeren Arbeiten. Als die im Programmheft angegebene Spieldauer überzogen wird, warten wir ungeduldig auf das Ende. Und dann sitzen wir da eine geschlagene Viertelstunde lang und klatschen. Lachend, wenn der ewige Säufer Puntila (Charly Hübner) torkelnd den Weg zur Rampe nicht findet und beim Abgang frontal gegen die Wand knallt. Zu Tränen gerührt, wenn das Kuhmädchen (Jennifer Frank) mit den großen Clowns-Augen nach unglücklich verdrehten Knicksen und Verbeugungen vor lauter Ungeschicklichkeit zu Boden stürzt. Frenetisch jubelnd, wenn die Telefonistin (oder war es das Apothekerfräulein? Oder die Schmuggleremma?), zunächst gegen ihren Willen zur Rampe geschleppt, plötzlich divenhaft die Arme ausstreckt und ihren Applaus einfordert. Erheben uns und schauen dem Ensemble nach, wenn es, nachdem ein jeder sein Abschieds-Solo zelebriert hat, an unseren Köpfen vorbei über die Sitzlehnen klettert, nach ganz, ganz oben in den Oberrang, wo es den Blicken entschwindet. Hinterm Horizont geht’s weiter, und wir klatschen und klatschen und jubeln und jubeln und aller Missmut ist vergessen. Und das Bekloppte ist: So ist das immer. Und da’s meiner zuvor so miesepetrig ins Wetter guckenden Nachbarin zur Linken und meinem zunächst völlig applausabstinenten Nachbarn zur Rechten genauso ging, kommen wir ja vielleicht an einer Einlieferung in die Nervenklinik vorbei. Sonst müssten die uns ja alle nehmen…

In die Nervenklinik gehören allerdings grundsätzlich alle im typischen schrillen, turbulenten Herbert-Fritsch-Stil inszenierten Gestalten, die vorgeben, Figuren aus Theaterstücken renommierter Dramatiker zu sein. Im Kölner Puntila sind es zwölf; sie alle demonstrieren eine virtuose Körperbeherrschung und eine Exaktheit der Einsätze in dem zirzensischen Trubel, die ganz leicht wirkt und doch so schwer zu erreichen ist. Aber nicht alle von ihnen haben das Glück, in dem Klamauk der Inszenierung unverwechselbare Gestalten formen zu dürfen. Neben den Hauptfiguren des Puntila, seiner Tochter Eva und seines Chauffeurs Matti bleibt insbesondere der „Attaché“ in Erinnerung, Evas ungeliebter, aber standesgemäßer Verlobter: Der sei doch kein Mann, sagt Puntila, und tatsächlich gibt Maik Solbach ihn mit affektiertem französischem Akzent als effeminierten Affen in goldgelbem Anzug. Charly Hübner ist als Puntila der Zappelphilipp par excellence, schwäbelt, sächselt und merkelt und kurvt mit seinem schweren Körper im Powerplay über die Bühne wie ein Eishockey-Profi kurz vor dem nächsten Bodycheck. Das Dauer-Stakkato an Albernheiten erschwert ihm aber eine Differenzierung zwischen dem betrunkenen gutmütigen Puntila und dem nüchternen, bösartig-herrischen Kapitalistenschwein. Nüchtern wirkt hier allenfalls Knecht Matti: Still, steif, mit durchgedrücktem Rücken schaut Michael Wittenborn dem hirnlosen Treiben zu, eine Art Heinz Rühmann, mit knarzender Sprache ohne Hebungen und Senkungen, aber mit dem Mutterwitz und der Bauernschläue des kleinen Mannes. Wittenborn ist, wenn uns das ganze Getöse und Gerenne und Gezappel mal auf die Nerven geht, der Anker unserer Aufmerksamkeit, in seinem den Klamauk kontrapunktierenden Spiel der schauspielerische Lichtblick der Aufführung.

Die wird die gesamte Spieldauer über von der Musik von Paul Dessau begleitet, ebenfalls virtuos, aber überdreht ausgeführt von dem spillerigen und androgynen, in ein Josephine-Baker-Bananenröckchen gekleideten John R. Carlson. Die sagenhaften Kostüme von Victoria Behr phantasievoll zu nennen, wäre untertrieben: Sie sind bisweilen aberwitzig. Ihr Meisterwerk im Rahmen der Kölner Inszenierung ist Behr beim Hut des Telefonfräuleins (Karin Kettling) gelungen: Die trägt den schmucken altertümlichen Telefonhörer gleich auf dem Kopf und wäre eine Attraktion beim Pferderennen in Ascot. – Raum für immer neue Entdeckungen und Spekulationen gibt auch das Bühnenbild von Janina Audick: eine Mischung aus Hotelfoyer mit afrikanischem Savannen-Prospekt inkl. Löwen und Palmen, aus Achterbahn, Spaßbad-Rutsche und Tribüne für Beobachtungsposten oder markige Matti-Auftritte, wobei insbesondere die Funktion als Rutschbahn dem zu entfesseltem Slapstick angehaltenen Ensemble bei manchem akrobatischem Kunststück von Nutzen ist.

Denn Brecht wird eben nicht als episches Theater zelebriert, sondern als heillos trashiger Comedy-Klamauk, der mal an zügig abzuschaltende RTL-Shows, mal aber auch an Frank Castorfs 15 Jahre alte Erfolgs-Komödie Pension Schöller Die Schlacht erinnert.

Manchmal, wie bei der Oberhausener Emilia Galotti oder der legendären Nora, findet man hinter dieser „Hochleistungshysterie“ ein konsistentes gedankliches Konzept: Dann wächst die Faszination der Aufführung von Minute zu Minute und man hört nicht auf zu staunen und zu entdecken. Manchmal huldigt der Regisseur auch einfach nur seinem Credo, Theater solle vor allem unterhalten und bloß nicht zu intellektueller Kunstkacke degenerieren. Dann reicht die Faszination nicht bis zum Ende und der übertourte Apparat dreht ins Leere. So wie jetzt in Köln, wo die am Angang komischen Effekte irgendwann verpuffen, auch wenn aus all dem Gezappel immer wieder einzelne besonders virtuose Nummern herausragen: Der Spitzentanz des besoffenen Puntila mit dem Pianisten, der etwas andere Befruchtungstanz mit seinen vier Verlobten oder der romantische Bilder einer Art Schatzinsel heraufbeschwörende, alles vernebelnde Saunaaufguss.

Aber es ist keineswegs die Absicht des Regisseurs, Brecht ausschließlich zu veralbern. Die überwiegend im Original-Text gesprochene Story bleibt nachvollziehbar, und aufmerksame Zuschauer bekommen auch die Sozialkritik mit – am eindrucksvollsten in der Szene auf dem Gesindemarkt: Kahlrasierte ärmliche Figuren in pyjamaähnlichen Overalls vollführen einen gespenstischen Shuffle, wie aneinandergekettet, gebeugt, mit bettelnden Händen – das sind fast holocaustähnliche Bilder. Puntila, betrunken (also gerade Menschenfreund), scheint uns aus dem Herzen zu sprechen: Es gehe nicht an, dass Menschen behandelt werden wie Vieh. Matti sieht das anders: Die Hauptsache sei, die Leute bekämen einen Arbeitsvertrag. Den aber wird’s nicht geben: Die Arbeiter wollen nur ihr geregeltes Einkommen, doch die Herren philosophieren, ändern aber nix. Da ist es dann doch wie heute.