Liebelei im Neuss, Rheinisches Landestheater

Ein fesselndes Mauerblümchen

Ganz schön bunte Vögel hat die Kostümbildnerin Jennifer Thiel da auf die Bühne gestellt: André Felgenhauer als Theodor in seiner knatschblauen Hose mit riesigem rotgrün-kariertem Schottenmuster-Shawl, Henning Strübbe als Fritz mit einem Monster von weißem Schleifen-Vorbau überm roten Cut; dazu die aufgedrehte, in der Tonlage immer ein kleines bisschen zu schrille Sigrid Dispert als Mitzi – so aufgebrezelt wären die schon eine ziemliche Show gewesen im Wien des Jahres 1895, als Arthur Schnitzlers Liebelei uraufgeführt wurde. Doch dann, nach einer Viertelstunde etwa, tritt Christine auf. Ganz leicht rechts von der Bühnenmitte steht sie da, im einfachen grau-beigen Hänger mit hochgeschlossenem weißem Rühr-Mich-Nicht-An-Kragen und langen blonden Haaren. Steht da fast bewegungslos, sagt nichts, verfolgt die unverschämten Spiele und rohen Bemerkungen der anderen stumm und unglücklich und traurig – und fesselt uns so, dass wir kaum den Blick von ihr wenden können. In den Fensternischen der Festsäle abweisender mittelalterlicher Burgen haben sie gestanden und dem Treiben stumm und traurig zugeschaut, die Jungfern, die keinen Tanzpartner abbekamen oder zu schüchtern waren, um sich ins Getümmel zu stürzen: Mauerblümchen wurden sie darum genannt, und so wie Melanie Vollmers Christine stellen wir uns die in unseren romantischen Träumen vor. In echt waren diese Mauerblümchen wahrscheinlich furchtbar hässlich - diese Christine ist hübsch und weckt Beschützer-Instinkte. Sie steht da, sagt nix und himmelt ihren Fritz an.

Und der schreit: „Halt den Mund!“, poltert: „Dein Gerede und Geschwafel widert mich an!“ Meint dabei die Frau, die vor lauter Unglück und Liebe die Zähne nicht auseinanderkriegt. Die ihn liebt und die er nur zu seinen Spielchen nutzt. Es sind die Projektionen eines Neurotikers, die da aus Fritz sprechen; neurotisch reagierte er schon zuvor jedes Mal, wenn die Türklingel seines Appartements, in dem sich die vier zu Vergnügungen aller Art zusammenfinden wollen, klingelte. Nun, er hat Grund dazu; die beiden Damen wissen zwar nichts davon und Theodor spielt die Gefahr herunter, aber Fritz hat ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau und fürchtet die Rache des Ehemanns. Er wird im Laufe des Abends im Duell getötet werden, doch Mitleid werden wir nur mit Christine haben, die Regisseur Marc Lunghuß als eine Art Inbegriff des reinen Mädchens inszeniert hat. Das entspricht durchaus Schnitzlers Original, allerdings hat Lunghuß, der das Sieben-Personen-Stück auf die vier Hauptfiguren reduziert hat, den Gegensatz zwischen den Christine und den drei übrigen jungen Leuten zugespitzt. Christine, die trotz aller Zurückweisungen an ihrem geliebten Fritz festhält, wirkt durch ihre unerschütterliche Ruhe und ihre tieftraurige Sprachlosigkeit noch entrückter; die permanent hochtourig sabbelnden, oberflächlichen bzw. mit aggressiver Ironie verletzenden Theodor und Fritz erscheinen noch negativer, moralisch verworfener. Fritz ist ein unglaubwürdiger Hallodri, der sich selbst längst verloren hat, Theo ein etwas egozentrischer, vergnügungssüchtiger Ironiker ohne Bereitschaft oder Fähigkeit zur Empathie und Mitzi ein einfach gestricktes, lebenslustiges Mädchen aus dem einfachen Volk, das in ihren Gedanken kein Morgen kennt. Tiefgang und Verantwortungsbewusstsein finden wir nur bei Christine.

Allerdings stellt Lunghuß auch deren für heutige Verhältnisse ungewöhnliche Lustfeindlichkeit ins Schaufenster. Warum Christine angesichts ihrer unbestechlichen moralischen Integrität den präpotenten Schürzenjäger Fritz nicht in den Wind schießt, ist heute unverständlich, aber ein Beleg für die Ambivalenz, mit der Schnitzler der Emanzipationsbewegung gegenüberstand: Christine erkennt am Ende, dass sie ausgenutzt wurde, protestiert auch, ist aber unfähig zur Auflehnung. Für das stockkonservative Wien des Jahres 1895 war auch das schon eine Provokation.

Im Neuss des Jahres 2012 kennen wir solch brave reine Mädchen nicht mehr, und auch die schrillen Männer-Typen sitzen in der vom Liebelei-Ensemble gezeigten Form weder im Drusushof noch auf der Bolkerstraße auf der anderen Rheinseite: gerade dann nicht, wenn sie wie Fritz und Theodor einer gebildeteren Schicht angehören. Und trotzdem funktioniert der Transfer ins Heute: Wir erkennen den Zynismus wieder, den Egoismus und die Rücksichtslosigkeit unserer Spaß- und Konsumgesellschaft: bei der Anbahnung flüchtiger Beziehungen, in die die eine mehr investiert als der andere, aber auch in anderen Lebensbereichen - ethisch-moralische Prinzipien stehen auch in unserer Gesellschaft nur noch selten im Vordergrund. Christine, die man nicht einmal über den Tod und die Beerdigung ihres Fritzen informiert hatte, bekommt als Gipfel des Zynismus denn auch aus Fritzens Nachlass ein techno-kühles Neonleuchtenkonstrukt aus dem Jahr 2012 in die Hand gedrückt. Das beißt sich krass mit der altbackenen „schönen Lampe“ in Christines Wohnung - und ist einfach nur unpersönlich und kalt!