Voll der Checker
Früher begann der Tag mit einer Schusswunde: Eine reine Jungenklasse war morgens um 11.00 Uhr im Jungen Schauspielhaus Düsseldorf aufgelaufen - mit Typen, denen man nicht unbedingt im Dunkeln begegnen möchte. Eine nette, vollkommen unvorbereitete Klasse 9 einer Realschule guckte ratlos. Der junge Regie-Shooting-Star Sarantos Zervoulakos hatte für ein Publikum „ab 16“ Franz Grillparzers Medea angerichtet – und wie wir es schon von der NRW-Zentralabitur-Iphigenie in Oberhausen kennen, verzichtet der Regisseur nicht des jugendlichen Publikums wegen auf klassische Sprache und inhaltlichen Anspruch. So gab es erstmal Unruhe im Parkett.
Für das grandiose Ensemble kein Problem. Händisch bewegte Segel erzeugen Wind, der auch das Publikum erfasst: Die Argonauten kommen zurück nach Griechenland, und Medea vergräbt das Goldene Vliess. Das kann das junge Publikum noch nicht verstehen – uns Erwachsene bezaubern diese Szenen schon. Und dann: „Sei eine Griechin du in Griechenland!“, fordert Aleksandar Tesla, der den Jason gibt. Schon sind wir mitten in der Integrationsdebatte. „Papa, bist du Grieche?“, fragt Jasons und Medeas Sohn skeptisch, denn Medeas Amme Gora hat ihm eingetrichtert, Griechen seien Betrüger und Feiglinge. Die Führung des Staatshaushalts im 21. Jahrhundert und die Doping-Geschichte griechischer Olympia-Mannschaften scheinen die Richtigkeit dieser Behauptung zu beweisen, zu Medeas Zeiten wurde vermutlich allerorts nicht weniger getrickst. Die Aufführung entfaltet nun ihre große Stärke: Sie denunziert nicht. Sie zeigt einen Jason, der … nun ja: zu Hause erstmal rausgeschmissen wurde wegen seiner Barbarenbraut und der auch im befreundeten Korinth merkt: Teufel auch, die heimische Kultur und Mentalität sind ihm doch näher als die auf Reisen erlebte Exotik, und die Mädchen vom Peloponnes sind langfristig die befriedigendere Alternative zur vorübergehenden sensation eines interracial fuck. Das Dumme ist nur, dass das exotische Abenteuer in eine ordentliche Ehe mit zwei Kindern mündete: Jason spürt seine Verantwortung, seine Fürsorgepflicht gegenüber der aus Kolchis mitgebrachten Medea, und er reflektiert seine veränderte Gefühlswelt vor dem Hintergrund einer veränderten kulturellen Umgebung durchaus zutreffend: „Ist sie hier dunkel, dort war sie helles Licht.“ – Es ist also nicht nur der Druck, den Korintherkönig Kreon ausübt, der Jason von seiner Gattin entfernt: es ist in der Tat eine nachvollziehbare kulturelle Differenz.
Und die wird umso nachvollziehbarer, wenn wir auf Kreusa blicken. Die ist keinesfalls eine intrigante linke Bazille, wie wir sie in vielen Inszenierungen schon sahen und wie es ihr Medea später unterstellen wird. Sie ist eine kultivierte höhere Tochter, die ihre Urinstinkte verschüttet hat unter sozial angepasstem Verhalten. Janina Sachau ist erheblich hübscher, viel charmanter auch als die importierte Kolcherin – sie ist aber auch eine Art Party-Zicke, oberflächlich plaudernd und auch ernsthaftere, tragisch grundierte Themen mit sozialem Lachen und innerer Distanz herunterspielend. Eine Salonschlange dagegen („Schlange!“ wird Medea sie beschimpfen) ist sie eben nicht: Jede Wette, dass die meisten von uns bürgerlichen Theaterbesuchern sie wohl ebenfalls als geeignetere Partnerin empfinden würden als die raubeinigere, tollpatschigere Medea, wenn uns auch beim Gedanken an den kalten Managertypen Kreon als Schwiegervater ein wenig mulmig wäre. Zervoulakos macht aus der Tragödie nicht nur ein Integrationsdrama, sondern auch ein Aufsteiger-Stück: Intelligente, sensible junge Frau mit ungeschicktem, manchmal grobschlächtigem sozialem Auftritt trifft auf parkettsichere, elegante, etwas oberflächliche Upper Class Tochter: Wer gewinnt da wohl?
Dabei ist Medea so gutwillig. So gefühlsecht. Bereit zu leiden, um zu lieben. Stefanie Reinsperger zeigt uns die ganze Palette der Gefühlswelt einer Fremden im ungastlichen Land, einer Integrationswilligen, deren Integration gar nicht wirklich gewollt ist. Gewollt ist Assimilation, besser noch: Rückkehr. Kreusa gibt sich sogar alle Mühe, Medea mit Kultur und Lebensstil des höher entwickelten Korinth vertraut zu machen; Medea wäre sogar zur völligen Selbstaufgabe, zur rückstandslosen Assimilation und unterwürfigen Hingabe bereit. Doch Stefanie Reinspergers Medea ist eine Wuchtbrumme: von schwerer, kräftiger Gestalt, mit weniger fein geschliffenen Zügen und weniger fein geschliffener Diplomatie als Griechen und Korinther – und zudem von den vielen Rückschlägen bei ihren verzweifelten Assimilationsversuchen längst demoralisiert und zermürbt. Ihre Versuche, sich der lockeren Partyplauderwelt anzupassen, fordern die völlige Verleugnung ihrer Persönlichkeit und wirken daher schlicht fehl am Plat*z. Vergessen wir einen Moment, dass auch Medea Königstochter ist: Sie ist es in der dekadenten Hochkultur Korinths wie die „Königstochter“ eines afrikanischen Stammes beim Düsseldorfer IN-Treff im Alten Kesselhaus. Ein hochaktuelles Sozialdrama deutet sich an – und ein Teufelskreis: Je mehr sich Medea als Außenseiterin fühlt, desto stärker verhält sie sich als solche.
Zuletzt erleben wir auch noch ein modernes Ehedrama. Das Trennungsgespräch zwischen Jason und Medea wird zwar nicht auf eine SMS reduziert, läuft aber gemäß heutiger Schablone ab: Jason, die neue Geliebte schon in petto, will „scheiden ohne Hass und Groll“, um seiner schutzlos zurückgelassenen Frau gegenüber kein schlechtes Gewissen mehr haben zu müssen. Und Medea? Stellt in einer herzergreifenden Szene ihre Kinder vor die Wahl zwischen Papa und Mama. Macht man auch nicht. Durch ihre Ungeduld und ihre unwillkürlich zur Schau gestellte Seelenpein bringt Medea sich eh um alle Chancen.
Die Empathie, die der Regisseur und die Schauspieler für ihre Figuren aufbringen, ist herausragend; Zervoulakos‘ Schauspielerführung grandios. Viele kleine Szenen treffen uns ins Mark. Da ist es manchmal ganz hilfreich, wenn die rauen Jungs aus der Schulklasse uns mit ihren Kommentaren wieder zum Lachen bringen. „Der ist voll der Checker“, meinen sie, als Jason, längst in den Schoß der Kreusa gebettet, in einem Anflug schlechten Gewissens zum Abschied noch einmal seine Medea besteigt. War er irgendwie nicht, als er auf Kolchis seine Hormone nicht kontrollieren konnte. Aber Sarantos Zervoulakos: der hat’s voll gecheckt. Und die unvorbereitete Realschulklasse 9, die anschließend noch mit Barbara Kantel, der Chefin des Jungen Schauspielhauses, und Teilen des Ensembles diskutierte, imponierte. Sandra, Kirsten und Community: weiter so!