„Man nimmt mich in die Wanderpflicht“
127 bedruckte Seiten selbstquälerischer Eigenanalyse, Lebensrückschau und Gesellschaftskritik – grausame, verzweifelte Vivisektion in acht Teilen als brillanter dichterischer Wortspiel-Jonglierakt. So liest sich der Text des vermeintlichen „Theaterstücks“, das die Münchner Kammerspiele bei Elfriede Jelinek in Auftrag gegeben hatten. Im Februar 2011 fand die Uraufführung statt. Im Mai folgte der „Mülheimer Dramatikerpreis“. Dabei tritt die österreichische Nobelpreisträgerin für Literatur des Jahres 2003 eigentlich die Kategorie Drama (wieder einmal) mit Füßen: keinerlei Andeutung einer Personage, kein einziger Hinweis auf Ort oder Zeit. Auch sonst findet sich nichts, was einer gängigen Regieanweisung ähnelte. Dennoch hat Jelinek mit Winterreise ein Drama von äußerster Spannung und von seltener sprachlicher Dichte und Raffinesse verfasst. Erstmals schreibt sie in der Ich-Form. Das macht die Betroffenheit umso größer.
Dem Regisseur bleibt die Aufgabe, den „Monolog“ (mit Rede und Widerrede durchsetzt) in eine theatral präsentable Form zu bringen, eine Auswahl aus dem langen Text zu treffen. Alexander Schilling inszeniert rund ein Drittel, verteilt auf fünf Frauen und zwei Männer. Unschwer sind die diversen „Elfriedes“ mit der typischen Haartolle zu erkennen, die schrille Mutter (Carola von Seckendorff), der demente Vater (Johann Schibli), das klavierspielende Kind (Friederike Bernhardt), das nur sehr gelegentlich kurze Passagen aus Schubert/Müllers „Winterreise“ anspielt und entsprechend den gesprochenen Vorwürfen oder höhnischen Beschimpfungen „immer dieselbe Leier“ klimpert. Allesamt – bis auf die Pianistin - wechseln die Schauspieler fortwährend Gesicht und Gestalt, hocken zwischendrin am Bühnenrand auf Stühlen in Erwartung ihres nächsten „Einsatzes“.
„Man nimmt mich in die Wanderpflicht“, seufzt Jelinek. Es sei „eine Reise im Stillstand“. Denn seit der Verleihung des Nobelpreises 2003 ist sie gefangen in ihrer Wiener Wohnung, wechselt nur mühevoll ab und an nach München, um auch dort wie eine Gefangene ihrer Angsterkrankung zu hausen. Wie sehr sie jedoch die aktuellen Themen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verfolgt, zeigen ihre Referenzen und wütenden Reflexionen und Kommentare zu Themen wie Bankenkrise oder den herzlosen Umgang der Menschen mit dem Entführungsopfer Natascha Kampusch. Immer wieder kehrt sie zurück zum eigenen Leben, beschimpft sich (als Alter Ego): „Sie sind eine Fremde überall… Sie hätten eine andere Reise wählen können, eine andere Leier….“. Großes Theater im Kleinen Haus der Städtischen Bühnen Münster.