Übrigens …

Elefant im Raum im Moers, Schlosstheater

Starke kranke Kinder

„Schule? Kann man, will man aber nicht!“ – Was hier nach (aus Sicht schulpflichtiger Kinder) so paradiesischen wie utopischen Zuständen klingt, hat eine Ursache von tragischer Wucht. Am liebsten würden wir die Augen verschließen vor der Existenz solchen Unglücks. Mancher tut das auch, wie wir im Laufe des Abends von den Betroffenen erfahren werden: Beste Freunde ziehen sich zurück, aus Angst und aus Unsicherheit, und lassen diejenigen allein, die einfach nur wie normale Menschen behandelt werden wollen. In die Schule könnte sie, will sie aber nicht, die krebskranke Jugendliche: Entstellt durch die Cortison-Behandlung, chattet sie lieber in Internet-Foren, lernt, spielt und schreibt Briefe am PC anstatt sich den Blicken Gleichaltriger auszusetzen.

Das Schlosstheater Moers aber schaut jetzt hin: Wenige Jahre nach seiner u. a. mit dem Robert Jungk Preis NRW ausgezeichneten Reihe zur Altersgeißel Demenz startet es eine neue Projektreihe zu einem brisanten Thema: zum Umgang mit lebensbedrohenden Krebserkrankungen bei Kindern. Es organisiert eine Reihe mit über 20 Veranstaltungen zu „Lebensgrenzen, Todesbildern und Abschiedskultur“, darunter Ausstellungen, Workshops für Kinder und Jugendliche, Lesungen und Vorträge. Und erneut hat das Theater bereits vor dem Start die erste Auszeichnung für sein Vorhaben eingeheimst: Die Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft aus Bonn, die gemäß ihrer Leitlinien partizipatorische Kunstprojekte fördert und „bewusst in gesellschaftliche Prozesse eingreifen, Impulse zur Verbesserung des sozialen Miteinanders geben und Veränderungsprozesse in Gang setzen“ will, hat unter mehr als 800 Bewerbungen im gesamten deutschsprachigen Raum sechs künstlerische Ideen, Konzepte und Initiativen prämiert, „die gesellschaftliches Engagement zeigen, das Potential haben, zu verändern, zu verbessern … und viele Menschen miteinzubeziehen.“ Das Schlosstheater Moers ist unter den Preisträgern.

Zum Start erarbeiteten jugendliche Krebspatienten mit zwei professionellen Schauspielern des Ensembles „ein Projekt zum Überleben“. Was so hart und dramatisch klingt, wird uns von Katja Stockhausen und Matthias Heße gemeinsam mit den (geheilten) Krebspatientinnen Lisa Gräf und Janise Ebbertz sowie den per Skype zugeschalteten Thao Pham und Franziska Wolf sachlich und sensibel, manchmal sogar mit Humor präsentiert. Barbara Wachendorff hat ein Stück zusammengesetzt aus Interview-Aussagen von jungen Patient(inn)en und betroffenen Eltern. Oliver Adam, erkrankt an einem Non-Hodgkin T-Zell-Lymphom, ist für den Titel des Abends verantwortlich: Lange, so hat er berichtet, war von Erkrankung und Chemotherapie die Rede, ohne dass je das Wort „Krebs“ fiel. Aber stets „war dieser Elefant im Raum“. In einer Mischung aus Spielszenen und Interview-Zitaten bringen uns Jugendliche und Schauspieler verschiedene Aspekte des Themas näher. Die kranken Jugendlichen erscheinen im Umgang mit der Krankheit stärker als ihre Eltern: „Mutter hätte das viel mehr weh getan als mir“, reflektiert ein Jugendlicher beim Gedanken an einen noch schlimmeren Krankheitsverlauf, und Alina Vahlhaus, die bei der Premiere im Publikum sitzt, sagt, vertreten durch Katja Stockhausen: „Ich muss auch stark sein für meine Familie.“

Die in lebensbedrohlicher Situation befindlichen Jugendlichen werden früh erwachsen: Sie reden wie die Alten – über Krankheiten halt -, werfen mit Fachbegriffen um sich, protzen auch mal mit der Schwere ihrer Gebrechen. In einer unsäglichen Fernseh-Show für Kinder versuchen zwei comic-artige, sensationslüsterne Moderatoren die Situation zu dramatisieren. Janise (in ihrem natürlich-selbstbewussten Auftritt und ihrer sprachlichen Präzision übrigens auch „schauspielerisch“ überzeugend) hält dagegen, rationalisiert die Angelegenheit und erklärt sie so, dass den hypothetischen jungen Fernsehzuschauern die Angst genommen würde; Lisa gibt mit ihrer erfrischenden Art Hoffnung.

Dramatisierung, übertriebene Emotionalisierung ist die Sache der feinfühligen, menschlich warmen Aufführung nicht. Überzeugend vermittelt sie uns, dass ein „normaler“ Umgang mit den Betroffenen besser ist als übertriebenes, schlimmstenfalls gar geheucheltes Mitleid. Die Jugendlichen berichten, wie schwer eine Reintegration in die alte Gemeinschaft nach überstandener Krankheit sein kann: Wer nicht krank war, findet oft keinen Zugang zu ihrer neuen Gedankenwelt und Reife. Und natürlich berichten sie auch von Momenten der Angst. Der sie aber ebenfalls erstaunlich rational begegnen: „Das Leben ist wie eine Mutprobe“, hat Egzon Osmani, erkrankt an spinaler Muskelatrophie, gesagt. Der kann nicht mehr laufen, doch seine Aussagen sind von bewundernswertem Optimismus. Die lauernde Todesgefahr ähnele „Greifarmen, Tentakeln“, die über der Gemeinschaft der Kranken schweben, heißt es an anderer Stelle: Den einen packen sie und den anderen nicht.

Totenstille herrscht im Publikum, als Matthias Heße erzählt von dem Jungen in der Klinik, der irgendwann seine Eltern in den Park oder in die Cafeteria schickt, damit sie sich ein wenig stärken. Während ihrer Abwesenheit stirbt er. „Ich bin sicher, er hat das gewusst“, sagt eine seiner Kolleginnen. Kinder, die stärker sind als ihre Eltern…

Das Moerser Projekt geht weiter – mit Vorträgen, mit der Ausstellung „Ein Koffer für die letzte Reise“ (16. März bis 27. April 2012) und mit der Uraufführung des Romans „Todesstation“ von Susan Sonntag. theater:pur bleibt am Ball.