Teufels Werk und Gottes Beitrag
Der Meister und Margarita, geschrieben bis zum Jahre 1940, verboten bis zum Jahre 1967, gilt heute als eines der großen Werke russischer Literatur; Figuren und Schauplätze des Romans genießen Kult-Status in der russischen Hauptstadt. Der Roman, so hatte der Dortmunder Schauspiel-Direktor Kay Voges, gleichzeitig Regisseur dieses Abends, gewarnt, sei weniger ein „Post-Tschechow“ als vielmehr ein früher William Burroughs; die Inszenierung werde bisweilen einem Trip ähneln. Was einleuchtet: Wer den zweiten Teil des Romans mit Margarita als Ballkönigin des großen Satans-Fests liest, hat tatsächlich den Eindruck, da seinen lauter von Burroughs geschaffene Guys and Chicks on Speed zugange. Man wünscht sich eine filmische Umsetzung – und will die dann doch nicht mehr, wenn man hört, dass es sie gibt: auf viel zu knappe 1 h 35 min zusammengeschnitten oder als 15stündige Fernsehserie.
Wer den prallen, ungeheuer vielschichtigen und mehr als 500 Seiten langen Roman auf die Bühne bringen will, muss sich notgedrungen bescheiden. Man kann die Angelegenheit verflachen und eine unterhaltsame Ghost & Fantasy Story daraus machen; man kann literaturwissenschaftliche Recherchen betreiben und die Parallelen zum Faust und zur Göttlichen Komödie herausarbeiten, man kann Bulgakows Abrechnung mit dem Totalitarismus in den Vordergrund stellen und politisches Theater anbieten. Kay Voges konzentriert sich auf das Motiv des Glaubens und der Identität. Der Roman handelt schließlich vom Teufel, der bei Bulgakow Voland heißt, ins atheistische Moskau der Stalin-Zeit einfällt und gleich zu Beginn überzeugend demonstriert, dass es ihn – und damit auch Gott – gibt. Der Meister dagegen ist ein verkrachter Literat, der einen Roman über Pontius Pilatus geschrieben, aber das Manuskript verbrannt hat und so wie der Zeuge des ersten Teufelsbeweises, der Lyriker Besdomny, im Irrenhaus gelandet ist. Die eigentlich anderweitig verheiratete Margarita ist in den Meister verliebt, glaubt unerschütterlich an die Qualität von dessen Roman, wird zur Hexe und rettet Meister und Manuskript. Das Ganze wird im Roman mit unglaublichen Volten erzählt, hat unzählige Nebenhandlungsstränge – und spätestens die schwierige, für das Rollenverständnis von Voland, Meister und Bulgakow selbst aber essentielle Parallelhandlung in des Meisters Pilatus-Roman macht eine halbwegs verständliche Nacherzählung des Romans auf der Bühne nachgerade unmöglich. Dachten wir, die wir nur Sebastian Baumgartens phantasievolle, aber vollkommen rätselhafte Düsseldorfer Inszenierung von vor drei Jahren kannten.
Weit gefehlt. Kay Voges gelingt die Quadratur des Kreises. Einerseits ist er mit der Machete durch den Text gegangen und hat diesen von einer Vielzahl von Handlungssträngen befreit, andererseits aber eine hochkomplexe Assoziationskette zum Thema des Glaubens und der Identitätsverwirrung geknüpft. Und wer jetzt aufhört zu lesen, weil das alles so kompliziert erscheint, der verpasst einen der unterhaltsamsten Abende, die es derzeit auf den NRW-Bühnen zu sehen gibt. Denn die Mixtur ist so intelligent wie publikumsfreundlich angerührt.
Vielleicht war es die Assoziation zu Burroughs, die Voges auf den Gedanken gebracht hat, den Roman zu einer Art Musical umzustricken. Mit dessen Black Rider (Regie Michael Simon) war das Schauspiel Dortmund schließlich vor siebzehn Jahren sensationell zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden. Zu Black Rider hatte Tom Waits die süffigen, effektvollen Songs geschrieben – Voges‘ Tom Waits ist der Dortmunder Theatermusiker Paul Wallfisch, der mit seiner Band Botanica live auf der Bühne steht und die Aufführungen mit Rocksongs und Pop-Balladen befeuert – Lyrics neuneinhalbmal Paul Wallfisch, eineinhalbmal Alexander Puschkin, einmal Wladimir Majakowski: auch Bulgakows Vorbild sowie sein Billard-Partner und literarischer Antipode sind so verewigt. Die wenigen Menschen, die vom Premierenabend nicht begeistert waren, gaben zu, zumindest ein exzellentes Rock-Konzert erlebt zu haben. Und ein tolles Multimedia-Spektakel.
Denn nicht nur die Musik ist mitreißender Rock und Pop – die ganze Aufführung wird zu einem Streifzug durch die Geschichte und die verschiedenen Genres des Pop. Ein riesiger Bühnenbild-Würfel rotiert auf einer Drehscheibe, darüber in poppigen Lettern die wesentlichen Stichworte des Romans: GOTT – LOVE – ZWEIFEL – MONEY – mit Ausnahme von „Money“, das in der Dortmunder Aufführung im Vergleich zu Bulgakows Roman eine untergeordnete Rolle spielt, auch die wesentlichen Aspekte der Inszenierung. Als Berlioz und Besdomny ihren Atheismus diskutieren, leuchtet selbstverständlich „Gott“ über der Szene; wenn Jeshua am Kreuz hängt, prangt „Zweifel“ über dem Bühnen-Würfel, wenn die ätherisch-schöne Luise Heyer als Margarita erstmals durch die Türe tritt, ganz stumm, ganz berührend, und Botanica mit Verve und Emotion „Angel“ dazu spielt, steht natürlich „Love“ dort, und alle sind hin und weg: Der Teufel im Puschkin-Lied, der Meister, der Margarita nie zuvor gesehen hat und dem plötzlich bewusst wird, dass er diese Frau sein Leben lang geliebt hat – und wir Zuschauer sowieso.
Die Bühnenkonstruktion dient auch als riesige Video-Leinwand. Ein reichlich großer Teil der Geschichte wird filmisch erzählt; das geht ein wenig zu Lasten der Schauspieler, deren Live-Auftritte dadurch manchmal statischer geraten als erforderlich. Oft aber sehen wir ein faszinierendes Zusammenspiel von Bühne und Film. Allein die Videokunst von Daniel Hengst ist das Eintrittsgeld wert: Vorproduzierte Elemente wechseln mit von sieben Kameras übertragenen Live-Bildern ab, manchmal sehen wir das „Making-Of“: Wenn die Kamera auf die einen Flug simulierende Margarita hält, fliegt diese auf der Leinwand tatsächlich durch die Welt, vom Dortmunder U am Borussen-Stadion vorbei, über Shanghai, über Berge und Schluchten, die Stadtautobahn entlang nach Moskau – alles in leicht verfremdeter Pop-Ästhetik. Diverse alte Filme werden zitiert, Pop-Art-Künstler, aber auch Gründgens: Natürlich zeigt Voges uns ausführlich das Faust-Motiv im Roman; alte Gründgens-Schallplatte dudelt, Gretchen hält ihr ertränktes Kind in Form eines schwarz aussehenden, aber gelb genannten Blumenstraußes im Arm.
Sieben Schauspieler teilen sich in 18 Rollen, der „Meister“ aber ist doppelt besetzt: mit dem spillerigen Uwe Rohbeck und mit dem massigen, in sich ruhenden Andreas Beck. Rohbeck spielt auch den atheistischen Redakteur Berlioz, Beck auch den Pontius Pilatus. So betont Voges das Spiel mit den Identitäten, mit den Uneindeutigkeiten, aber auch mit den Spiegelungen der Figuren (und des Autors) in anderen Charakteren. Herausragend verkörpert Christoph Jöde, der auch den zweifelnden, stets missverstehenden Levi Matthäus der Pilatus-Handlung spielt, den Lyriker Besdomny: zu Beginn ein überzeugter Atheist, der vollkommen aus dem Gleichgewicht gerät, als er die bedrohlichen Fähigkeiten Volands erkennt. Fast comicartig und damit passend zur Pop-Ästhetik der Aufführung gibt Jöde die Figur, aber auch zutiefst verängstigt, seiner selbst nicht mehr sicher. Wenn er am Ende mit dem Dortmunder Sprechchor das Glaubensbekenntnis sprechen soll, so gelingt ihm dies nur zögerlich und unvollständig: Mühsam, gegen seinen Willen presst er einzelne Worte heraus, mit verschränkten Armen und furchtsamen Augen: Es ist eine Art Exorzismus, die da mit ihm durchgeführt wird. In Besdomny finden wir das Thema der Inszenierung von Glauben und Identität in konzentriertester Form.
Wahrheiten werden brüchig, wenn die Figuren das Gegenteil von dem sagen, was auf der Bühne zu sehen ist. Das Thema von Glauben und Zweifel verkörpert aber vor allem die großartige weibliche Jesus-Figur der Caroline Hanke. Sie und Jöde ragen aus einem furios auftrumpfenden Ensemble heraus. Eine wahre Schmerzensfrau spielt Hanke als Jeshua am Kreuz; sie schreit vor körperlicher Pein, bittet Gottvater um Hilfe als „dein Soldat, dein Diener, dein Lamm? Dein Sündenbock!“ Die Folterung am Kreuz macht Jeshua zum Zweifler: „Ich bin kein Kirchengründer. Ein Tor bin ich, ein Feigling, ein hirnloses Weib!“ Und mag die Inszenierung Pop sein, mag vieles Witz und Gag sein: Hier vermählen sich Pop und Pathos zu der ernsthaften, erschütternden Leidensgeschichte eines Menschen, dessen Glaube auf die härteste Probe gestellt wird, die man sich vorstellen kann. Margarita aber berührt die blutige Lendenwunde Jeshuas und bekennt sich: „Ich glaube.“ – „Jedem wird zuteil, woran er glaubt“, wird Voland später sagen – und dabei den abgeschlagenen Kopf des Atheisten Berlioz in der Hand halten.
Margarita wird sich am Ende bereitwillig dem Teufel verschreiben, der letztlich nur die dunkle Identität Gottes ist. Gern bleibt Margarita Hexe: „Ich habe meine Natur verloren und eine andere angenommen.“ Jeshua bittet den Teufel, ihr und dem Meister Ruhe zu geben. „Horch, die Stille“, sagt Margarita zum Meister, „horch und genieße das, was dir nie im Leben gegeben war – die Lautlosigkeit.“ Teufels Werk und Gottes Beitrag: Beide werden glücklich sein in einer anderen Welt, und auch Pilatus, der Jeshua nur widerwillig hat hinrichten lassen und seit 2000 Jahren keine Ruhe mehr gefunden hat, wird durch des Meisters letzten Satz freigesprochen. Majakowskis schönes Lied erklingt noch einmal: „The incident’s closed / Love’s arc come up against / Reason’s lies.”
Wie hatte Voland zu Beginn gesagt: „Das Theater ist der Ort, wo Wirklichkeit und Fiktion zusammentreffen.“ – Und Theatermacher Voges ist ein Teufelskerl! Hingehen!