Cervelatwurst aus Bottrop
Einige Wochen vor der Premiere schuf ein Aufruf in der Düsseldorfer Lokalpresse Platz im Keller: Das Forum Freies Theater suchte Elektroschrott. Am Ende war es dann so weit: Ich konnte meinem alten Staubsauger auf der Bühne zujubeln. Halblinks stand er da, unauffällig im Schatten eines Turms aus einem uralten CD-Player und zwei Mikrowellen, der von einer Kaffeemaschine gekrönt wurde. Bügeleisen und Toaster fanden sich, Waschmaschinen, Radios. Doch dominiert wurde die Bühne von unzähligen PC- und Fernsehbildschirmen – und eben Mikrowellen. Denn die können so schön blinken und leuchten, wenn Saallicht und Scheinwerfer ausgehen. Dann sehen sie aus wie eine Städtelandschaft, nachts aus dem Flugzeug gesehen…
Irgendwann während der knapp eineinhalbstündigen Aufführung wird klar, dass das Bühnenbild von Jan Kattein eine Metapher ist – eine Metapher für den Zustand Deutschlands im Herbst der Wohlstandsgesellschaft. Elektroschrott, Wohlstandsmüll - war mal chic, ist aber kaputt. Jesus ich möchte viel Glück beim Angeln ist der zweite Teil einer Trilogie der jungen Regisseurin Anna Malunat zum Thema Heimat. Diesmal untersucht sie den Begriff aus Sicht der heute Dreißigjährigen. Arthur (Oleg Zhukov), ein junger Ukrainer aus Odessa, sitzt im Zug auf dem Weg zu seinem deutschen Jugendfreund Sascha und dessen Partnerin Caroline und schmökert in einer Broschüre mit dem Titel „Tatsachen über Deutschland“ – man staunt über das Geschwurbel, mit dem unsere Kultur und Lebensweise beschrieben wird, und fasst sich an den Kopf: Denn das meiste ist wahr. – Schnell beschließen Sascha, Caroline und Arthur, im alten Mercedes eine Reise durch Deutschland zu unternehmen.
Ehrlich gesagt: Wir würden unseren ukrainischen Gästen auf einer solchen Reise vielleicht den Hamburger Hafen, Schloss Sanssouci, die Wieskirche und das Forum Freies Theater zeigen, um sie mit den Höhepunkten deutscher Wirtschaftskraft, Geschichte und Kultur vertraut zu machen, aber eine solche Reiseplanung hätte Anna Malunat nicht zum Ziel geführt. Sie schickt unsere drei Helden auf eine Expedition in den deutschen Alltag. Nach Elmshorn zum Beispiel, in echte Kleinstadt-Tristesse – nachvollziehbar, dass Arthur dort keine Oden liest, sondern die Fahrpläne: 43 h 27 min dauert es per Bahn von Elmshorn nach Odessa… - Statt nach Sanssouci geht es nach Brandenburg, zum Herrn Ribbeck auf Ribbeck ins Havelland. Wenige Kilometer weiter östlich ist an der B 96 ein Haus zu verkaufen; das einzige Fenster der benachbarten Kneipe ist eingeschlagen, der Friedhof verwahrlost: DDR-Ruinen statt blühender Landschaften.
Statt zur Völklinger Hütte geht es zum Dortmunder PHOENIX-See: dorthin, wo vom eindrucksvollen, viele Arbeitsplätze schaffenden Stahlwerk nichts mehr zu sehen ist, der Hochofen Stein für Stein ab- und in China wieder aufgebaut wurde und ein Naherholungsgebiet inklusive Wohnpark entsteht: Die ironische Wiedergabe der Führung durch den zuständigen Landschaftsarchitekten macht uns erneut schmunzeln: Voll durchorganisiert ist die Chose, vom Badeverbot bis zur Motorbootstrecke im künstlichen See, von der Möglichkeit einer Insel bis zur Unmöglichkeit, sie zu betreten, und zum ausgeklügelten Rettungskonzept. Witzig und typisch deutsch – wie muss das auf einen jungen Ukrainer wirken!
Der erzählt für uns Deutsche skurril wirkende Stories aus seiner Heimat, während Olaf Helbings Sascha das Angebot der Trinkhalle in Bottrop scannt, von Lakritzschnecken bis zur Cervelatwurst. Caroline dagegen „beginnt über eine Alternative in ihrem Leben nachzudenken. Aber das bemerkt sie noch nicht einmal selbst.“ Immer wieder tauchen an den verschiedenen Stationen Bilder einer möglichen neuen Heimat auf. Verfallene, verschwindende Heimat wie das Haus an der B 96 oder im Abriss-Viertel Duisburg-Bruckhausen, wo „die Häuser sterben“; selbst das Meer, von dem Caroline geträumt hat, ist verschwunden, als Arthur den Deich erklimmt. Aber allzu verlockend sind auch die Wohnperspektiven für die heutigen Anfang-Dreißiger wie das (von Olaf Helbing erneut mit wunderbarer Ironie angepriesene) Schwörer Energiespar-Fertighaus nicht, dessen Präsentation Caroline an den Selbstmord dreier Mädchen im sorgfältig abgedichteten Zelt denken lässt.
So zeichnet die Aufführung, die so banal und scheinbar ziellos begann, ein erschreckendes Bild von Alltags-Deutschland in der Nach-Wirtschaftswunder-Zeit, in der Phase von Sättigung und Krise. Trinkhallen, Billigfood, Brachland. Übrig gebliebene Betonpfeiler einer abgerissenen Brücke. „Der Weg endet hier. Zehn Meter vor uns ist die Welt zu Ende.“ Ein apokalyptisches Bild beschreibt Sascha da, möglicherweise vom Braunkohle-Abbaugebiet Garzweiler II, wo ganz Dörfer verschwanden, die für viele Generationen Heimat waren.
Doch aus den bruchstückhaften Kürzest-Szenen, deren einfache, unprätentiöse Sprache in Verbindung mit der unaufdringlichen Musik zu einer überraschenden Poesie findet, erwächst auch das Portrait einer Gesellschaft. In der Johanneskirche in Biberach an der Riss fand sich der Titel zu diesem Abend: eine Fürbitte, auf einen Klebezettel gepinselt: Jesus ich möchte mehr Glück beim Angeln. Nicht nur witzig, auch banal, materialistisch, phrasenhaft und stereotyp sind viele der Fürbitten – andere sind ungeheuer bewegend und traurig: Welches Unglück erdulden doch manche Menschen in der Familie, die ihnen Heimat sein sollte!
Immer wieder träumt Katharina Meves als Caroline den Traum vom Eigenheim. Und: „Wir müssen dann Kinder kriegen.“ – „Wollt ihr Kinder?“, fragt Arthur. – „Ja. – Nein. – Der entscheidet sich ja für nichts.“ Hat Caroline sich den Falschen geangelt? Oder ist dies ein typisches Problem der heute Dreißigjährigen?