Das Kindchen Michaela
Eine wahre Blütezeit erlebt Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas auf unseren Theater-Bühnen. Allein in NRW finden sich sowohl in Essen als auch in Dortmund Adaptionen der Novelle im Repertoire. Das ist nicht überraschend, ist doch der Titelheld der Prototyp eines modernen Wutbürgers: mit tief empfundenen ethisch-moralischen Grundsätzen, einem militanten Gerechtigkeitssinn und entfesselter Aggressivität, wenn dieser verletzt wird. Und die Politik: lähmt sich selbst mit Intrigen, Verfilzung und Bürokratie. Kohlhaas‘ geradezu altruistische Bereitschaft zur Unterwerfung, nachdem seinen Forderungen Genüge getan wurde, dürfte allerdings nicht allen heutigen Wutbürgen zu eigen sein…
Bereits im Oktober 2010 hatte im Theater unterm Dach am Prenzlauer Berg Anja Gronaus One-Woman-Show Kohlhaas. Hiermit kündige ich als Staatsbürger Premiere. Jetzt erst kam die Koproduktion mit dem Forum Freies Theater Düsseldorf nach NRW. Anja Gronau hatte bereits vor knapp zehn Jahren mit großem Erfolg Klassiker zu hübschen kleinen Ein-Personen-Stücken umgearbeitet, zu Portraits berühmter junger Frauen der deutschen Dramatik in moderner Fassung. Umwerfend charmant berichtete damals Schillers Johanna von Orléans über ihre Jugend auf den Feldern von Domrémy und ihre anschließende Karriere als Heeresführerin von Karl VII.; vollkommen neue biographische Details erschlossen sich uns über die von Heinrich Faust geschwängerte Grete. Wir waren entzückt.
Nun hat Anja Gronau versucht, auf die gleiche einschmeichelnde, kindlich-naive Weise eine Michaela Kohlhaas ins Rennen zu schicken und sie parallel gegen den Kleist’schen Junker Wenzel von Tronka und Bahnchef Grubes Stuttgart 21 antreten zu lassen. Renate Regel schlüpft in eine Vielzahl von Rollen einschließlich der Kohlhaas’schen Zossen, die der Junker von Tronka gesetzeswidrig requiriert hat und die Auslöser sind für das ganze Desaster, das die verwickelte Novelle auf 100 Seiten beschreibt: Da hüpft und springt die Schauspielerin über die Bühne wie über einen CHIO-Parcours und erfreut sich ihres „kohlrappenschwarzen“ Fells. So munter und mit nicht immer motiviert erscheinenden tänzerischen Bewegungen geht das leider aber 80 Minuten lang weiter, gleich ob von den Ungerechtigkeiten der Kohlhaas-Geschichte berichtet wird, vom Brandschatzen der Städte in Ausübung von Kohlhaas‘ Rache oder von den Brandmauern im Nahkampf mit der Polizei des 21. Jahrhunderts, von „Wasserwerfern, die Augen ausschießen“. Naive kindliche Zuversicht anstatt der bei Kleists Helden zu unterstellenden staatsbürgerlichen Überlegungen regiert in Renate Regels Interpretation Kohlhaas‘ Gedanken, wenn sie immer neue Versuche startet, mit anwaltlicher Hilfe zu ihrem Recht zu kommen, und in der Spielweise der Schauspielerin ist es weniger der mündige Bürger, der aufsteht gegen Machtmissbrauch im 21. Jahrhundert, gegen die in einer Videosequenz erscheinenden Karlsruher Verfassungsrichter oder die mit Schutz und Schild gegen unschuldige Demonstranten anmarschierenden Hundertschaften von Polizisten: - es ist vielmehr ein staunendes, von den Intrigen dieser Welt überraschtes Kind. Renate Regel verkörpert keine Wutbürgerin, sondern eine Elfjährige in einem kindlichen Rollenspiel zur ach so bösen Politik.
Dabei hat die von Anja Gronau erarbeitete Text- und Spielfassung durchaus Elemente, die sich zu wutbürgerlichen Passagen ausbauen ließen. „Ich bin das Volk!“, ruft Renate Regel mehrfach, und als Kohlhaas die Städte in Brand setzt, in denen er den Junker von Tronka vermutet, züngeln Flammen über einen Videostill vom heutigen Berlin. „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, werden Brecht und die Anti-Atomkraft-Bewegung der 70er Jahre zitiert; mit Hilfe des Publikums wird mit Tacker und Blecheimer Demo-Lärm gemacht gegen bis an den Hals bewaffnete Polizisten. Daraus ließe sich mit einiger Wut und Phantasie durchaus politisches Theater machen, aber allzu banal und fast zusammenhanglos werden da einzelne Grundgesetz-Paragraphen in den Raum geworfen, allzu isoliert stehen diese Szenen im Raum, allzu infantil irrt Regel dabei über die Bühne und ruft zehnmal „Zorn, Zorn, Zorn…“. – Was bei der heranwachsenden Jeanne d’Arc in ihrer kindlichen Überforderung durch den Ruf Gottes vor zehn Jahren charmant und berührend wirkte, ist bei einer Wutbürgerin des 21. Jahrhunderts einfach fehl am Platze.
Zudem schießt sich die Textfassung auch noch selbst ins Knie. Da wird gleich mehrfach undifferenziert gegen die „Eliten“ gewettert – als wären nicht Kleist und Goethe, als wären nicht die Theatermacher selbst Teil einer Elite, als müssten wir nicht bei aller Eigenverantwortung die Hoffnung auf eine ethisch-moralische Reinigung unserer Gesellschaft, aber auch auf eine Bewahrung von Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit zwingend in die Hände einer – moralisch einwandfreien – intellektuellen Elite legen. Und dass das Ende von Kleists Novelle mit seinen, wie die Inszenierung selbst sagt, „übersinnlichen“ und von den unwahrscheinlichsten Zufällen abhängigen Wendungen nicht gerade ein elitäres Meisterstück ist, wird von Gronau und Regel zwar ganz wunderbar ironisiert, hilft der Glaubwürdigkeit des schwächelnden Stücks aber auch nicht gerade auf die Beine.
„Wenn mein Landesherr käme: Ich würde ihm die Kapsel verweigern“, sagt unsere Michaela Kohlhaas am Schluss mit einem für Nichtkenner der Kleist’schen Novelle kaum verständlichen Bezug auf des Kurfürsten von Sachsen Objekt der Begierde in Kleists Original. Damit der Landesherr kommt und den Widerstand ernst nimmt, muss das Kindchen Michaela aber erst noch erwachsen werden…