Die Ambivalenz des Wissenschaftlers
„Du glotzt nur. Glotzen ist nicht sehen“, fährt Galileo Galilei in der ersten Szene seinen gelehrigen Schüler Andrea Sarti an. Die Duisburger „Akzente“, die die jüngste Premiere des Theaters Bonn koproduziert haben, stehen aus Anlass des 500. Geburtstags von Gerhard Mercator unter dem Motto „Vom Suchen und Finden“. Galileo Galilei, der Lehrer und Mathematiker an der Universität zu Padua, hat gesucht und gefunden. Die Kirchenoberen im feudalen Florenz aber: glotzen lieber. Nicht durchs neue Teleskop, das neue Sichtweisen und Erkenntnisgewinn bringen, aber auch das alte ptolemäische Weltbild von der Erde als Zentrum und Fixpunkt des Universums wanken lassen könnte, sondern bei der Modenschau züchtiger kirchlicher Top-Models, die den Dernier Cri der Ordenstrachten vorführen. Wenn Carlotta Ventilatore mit flatternden Haubenflügeln über den klerikalen Laufsteg trippelt, merken auch wir im Publikum auf und freuen uns über das komödiantische Potential, das das verstaubte alte Brecht-Stück entfaltet. Und wenn wie im Fußballstadion plötzlich ein nackter Flitzer durch die Modenschau sprintet, hat nicht nur Regisseur Niklas Ritter noch einen draufgesetzt in seinem Comedy-Exkurs vom ernsten Diskurs-Stück, sondern auch wir Zuschauer sind in die Amüsierfalle getappt: Wie die Kardinäle folgen wir dem massenkompatiblen Show-Format aufmerksamer und interessierter als dem Disput über die revolutionären Forschungsergebnisse.
Scherz, Satire, Ironie hat Niklas Ritter in seine Inszenierung des selten gespielten Stücks einfließen lassen, dessen Rezeption durch seine Geschichte als jahrzehntelanger Gymnasiastenschreck kontaminiert ist. Viel italienische Folklore begleitet die Aufführung – gar manche hübsche Canzone erklingt, Pizzeria-Italienisch auch, und da ruft schon mal jemand „Struuunz!“ - eigentlich fehlt nur, dass Andrea (ganz unitalienisch nicht als maskuliner, sondern als femininer Vorname gedeutet und mit Ines Schiller besetzt) die Discorsi mit Galileis Erkenntnissen im flotten Cinquecento nach Holland schmuggelt. Denn in der Tat mäandern Kostüme und Anspielungen ungeniert durch die Jahrhunderte – Signore Vanni, pragmatischer Vertreter der Geschäftswelt und hier eigentlich auf der „richtigen“ Seite – ist Silvio Berlusconi aus dem Gesicht geschnitten, und Kardinäle und Inquisitor setzen schon mal die Mafia-Sonnenbrille auf. Zuvor, daheim in Padua, waren die Figuren als weiß gekleidete Puppen eher frühem 20.-Jahrhundert-Kabarett entsprungen, die teilweise anmutig aus dem schwarzen Vorhang lugten und sich marionettenartig oder slapstickhaft bewegten. So wird Brechts Stück denn über weite Strecken zu einer – meist, aber nicht immer italienisch grundierten – Farce; nicht immer geht das auf, denn so mancher Gag ist sich selbst genug und fügt sich nicht in ein geschlossenes, aussagekräftiges System.
Und unterhaltsam ist es doch. Trotz mancher Längen im dritten Viertel. Vor allem: Der ernsthafte Hintergrund des Brecht-Stücks wird in keinem Moment verleugnet. Denn mögen auch die meisten Figuren Karikaturen sein: Galileo Galilei ist dies nicht. Bernd Braun hatte im Vorfeld der Premiere geäußert, er wolle das Publikum für seine Figur mit dem „Reiz des Unspektakulären“ gewinnen – und exakt das gelingt ihm. Er gibt den Wissenschaftler als ambivalente Persönlichkeit mit den typischen menschlichen Stärken und Schwächen – jenseits aller Karikatur. Hier ist ein Mensch mit Forscherdrang, zu Beginn gar mit einer Mission. Ein Mensch, der auch mal schummelt und betrügt für seinen Erfolg – ein Fernrohr nachbaut und es für die grandiose Erfindung ausgibt, die die Holländer gemacht haben. Der nicht immer vertrauenswürdig erscheint. Der aber pragmatisch ist, kompromissbereit. Und der dann, unter dem Druck der Kirche und angesichts drohender Folter, seine Erkenntnisse widerruft. Sein Selbstbewusstsein, seine Souveränität verliert, Verrat begeht an seinen Ideen – sehr schöne stumme Bilder fallen dem Regie-Team ein, als die Familie auf das Ergebnis des Inquisitions-Prozesses wartet. Um Galilei wird es einsam; er wird zum gebrochenen Mann. Plötzlich stimmt der Rhythmus der zuvor manchmal so disparaten Aufführung. Galileo Galilei, dem Brecht mit zunehmender Zahl an Überarbeitungen seines Stücks immer kritischer gegenüberstand, weckt nun unser Mitgefühl.
Andrea wird am Ende seine Forschungsergebnisse über die Grenze bringen. Nicht im Cinquecento, denn wir sind längst im ernsthaften Teil der Aufführung angelangt. Beim Kampf der Wissenschaft und der Erkenntnis gegen Macht und die mangelnde Bereitschaft der Machthabenden, das Weltbild, auf dem ihre Macht beruht, hinterfragen zu lassen. Und bei der moralischen Verantwortung der Wissenschaft.