Did He?
Dalton Harron, genannt Diddy, ist Mitarbeiter eines Unternehmens, das Mikroskope herstellt. Wir erfahren, dass durchsichtige Objekte mit Hilfe des Reflektors ausgeleuchtet werden und wie man undurchsichtige Gegenstände untersucht, die „das Licht vom Reflektor nicht durchdringen kann.“ – Die blinde Hester würde, wenn sie könnte, lieber durch ein Teleskop anstatt durch ein Mikroskop schauen. In das „Licht, das von einem toten Stern ausgesandt wird…, der schon vor einer Million Jahren gestorben ist, aber immer noch weitermacht, als wüsste er nicht, dass er tot ist.“
In Susan Sontags Roman „Death Kit“ haben auch Mikroskop und Teleskop eine metaphorische Funktion. Denn in Sontags Werk geht es um die verschiedenen Arten des Sehens: um Wirklichkeit und Fiktion, um die Authentizität des Gesehenen und – vermeintlich – Erlebten, um Schein und Sein, um Unterbewusstes und Verdrängtes, um das Durchschauen oder Erahnen von Realitäten, die man mit der Ratio nicht durchdringen kann. Es ist ein Roman mit wenig Handlung, mit langen Passagen innerer Monologe – diesen Roman auf die Bühne bringen zu wollen, ist ein gewagtes Unterfangen. Im Rahmen der Projektreihe „ÜberGehen“, einer vielfältigen Veranstaltungsreihe zu „Lebensgrenzen, Todesbildern und Abschiedskultur“, hat das Schlosstheater Moers es versucht. Mit Erfolg: Gelungen ist sowohl eine spannende theatrale Umsetzung des intellektuell-experimentellen Romans als auch eine überzeugende Eingliederung dieser Geschichte in den Kontext des ambitionierten Moerser Projekts. Nie weiß der Zuschauer genau, ob er sich in einer realen oder einer eingebildeten Welt, im Leben oder in einem Übergangsstadium zum Tod befindet.
Dalton Harron sitzt im Zug. Mitten in einem Tunnel kommt dieser aus unerfindlichen Gründen zum Halt. Diddy steigt aus, findet einen Eisenbahnarbeiter, von dem er sich bedroht fühlt, und bringt ihn um. Steigt wieder ein und erklärt seiner Abteil-Nachbarin Hester seine Liebe. Hester ist zwar blind, besteht aber auf ihrem Wissen, dass Diddy das Abteil nie verlassen habe. Did he, did Diddy kill? Oder ist auch der Tunnel nur eine Metapher, zum Beispiel für eine Nahtoderfahrung Diddys? Ist die ganze Geschichte, die uns hier erzählt wird, eine Bewusstseinsreise, ein Traum während eines – wohl missglückten – Suizidversuchs? Wie real ist die Meldung aus der Zeitung vom nächsten Morgen, der zufolge ein Arbeiter bei Reparaturarbeiten im Tunnel von nämlichem Expresszug überfahren wurde? Wir werden es bis zum Schluss nicht erfahren.
Mit einer kongenialen bildlichen Umsetzung des Roman-Themas zeigt uns die Bühne von Birgit Angele, welch unpräzise Wahrnehmungen wir haben, wenn scheinbar Durchsichtiges ausgeleuchtet wird. Die sechs Schauspieler, die häufiger als Erzähler fungieren denn in ihren Rollen agieren, sitzen an primitiven Bürotischen, ein jeder in seiner Nische, abgetrennt von den anderen durch durchsichtige weiße Gazevorhänge. Auf den vorderen Vorhang, der die Bühne vom Publikum trennt, werden Videobilder projiziert, die vielleicht Assoziationen zulassen, den klaren Durchblick und präzise Wahrnehmungen aber zusätzlich erschweren – erst nach 45 Minuten werden die Vorhänge geöffnet. Auch die Blindheit Hesters steht für die nicht objektivierbaren Wahrheiten, von denen Susan Sontag spricht: „Abgesehen von den (normalen) Augen gibt es die geheimen Augen. Die entweder sehen oder nicht sehen.“ Die sehen „auf eine Weise, wie es die meisten Menschen mit Augenlicht nicht können.“
Assoziationen, Metaphern allenthalben – und viel Rätselhaftes: wie im Roman und doch entschieden weniger als dort, denn den Roman hat Ulrich Greb als Autor der Bühnenfassung radikal gekürzt. Übrig geblieben sind das Handlungsgerüst, neben wenigen Dialogen eine große Zahl erzählerischer Passagen und ein paar reflexive Überlegungen. Aktionen werden meist nur angedeutet. Das könnte ausgesprochen anstrengend werden, doch gelingt es den großartigen Moerser Schauspielern, allein mit ihrer suggestiven Sprache und der Intensität ihrer Beschreibungen Spannung zu erzeugen. „Der Schrecken weicht gespielter Härte“, heißt es, als Diddy den vermeintlichen Mord begeht: Ja, gelegentlich erleben wir gespielte Härte; vorübergehend dominiert auch einmal der Humor, für den vor allem der Blickfang der Kostümbildnerin verantwortlich ist: Jakob Schneider als misstrauische, distanzierte Blicke werfende Tante Jessie Nayburn, eine Art alte britische Jungfer im umwerfend hässlichen groben braunen Kostüm. Vor allem aber zeichnet sich die Aufführung durch Einfühlsamkeit und Poesie aus: Selten sahen wir den sonst so kraftvollen, in anderen Aufführungen oft lautstark und temperamentvoll agierenden Frank Wickermann so zart und sensibel wie hier als „Diddy“ Harron, der permanenten seelischen Schwankungen ausgesetzt ist; selten war Marieke Kregel so intensiv und sinnlich (und manchmal rätselhaft!) wie hier als Hester. Im Verein mit dem perfekten Einsatz von Musik und Licht halten uns die Schauspieler in dieser bei Schauspielern und Zuschauern hohe Konzentration erfordernden Aufführung zwei Stunden lang gefangen. Das Mikro- oder Teleskop, das Susan Sontag und Ulrich Greb auf die Welt von Dalton und Hester gerichtet haben, zeigt auf faszinierende Weise die Uneindeutigkeit unserer Seelenlandschaften und unserer Wahrnehmungen. Da hilft auch das beste Präzisionsinstrument nicht weiter. Langer, langer Applaus.