Yerma im Bochum, Schauspielhaus

Mehr als Apfelmarmelade kochen

Der Schlussapplaus war groß. „War das ein tolles Stück!“, schwärmte die ältere Dame in Reihe 3. Doch ihre Nachbarin knötterte mit ausweichendem Blick vor sich hin. Ich knötterte mit.

Federico Garcia Lorca, gesellschaftskritischer und von den Faschisten verfolgter andalusischer Lyriker und Dramatiker, Kämpfer für die Rechte der Frauen und Wegbegleiter der Surrealisten, ist ein toller Autor – aber Yerma geht heute irgendwie gar nicht mehr. Jedenfalls nicht, wenn man es vom Blatt spielt. Das Drama einer Frau, die, gefangen in den gesellschaftlichen Zwängen der andalusischen Kultur, ihren einzigen Lebensinhalt darin sieht, schwanger zu werden, deren Umfeld sich arg folkloristisch über die Freuden des Mutterdaseins auslässt, die sich in herzzerreißenden emotionalen Ergüssen über die Schwangerschaft der jüngeren Maria ergeht – das schmerzt heutzutage bis zum Fremdschämen.

So entsetzlich beginnt die Aufführung am Schauspielhaus Bochum tatsächlich. Die Übersetzung von Susanne Lange bleibt trotz einiger prägnanter Kernsätze häufig im Folkloristischen stecken, das wohl metaphorisch gemeinte Bühnenbild von Csörsz Khell wirkt vorwiegend als halbnaturalistische alte andalusische Dorflandschaft, und unendlich lange drehen sich die Gespräche der Protagonisten ausschließlich ums Kinderkriegen: um die segensreichen Schmerzen der Mutterschaft, das „Verkümmern“ der kinderlosen Frau, um die unstillbare Sehnsucht, das grenzenlose Begehren der nicht mehr ganz jungen Yerma nach der Schwangerschaft. Es ist zum Junge-Hunde-Kriegen.

Erstes Interesse aber wecken die Bemühungen der finnischen Regisseurin Cilla Back, der Inszenierung eine streng choreographische Form zu geben. Gleich zu Beginn zum Beispiel, wenn die fünf Waschweiber singen und wringen, streng rhythmisch in parallelen Bewegungen – und plötzlich ein einziger kurzer Babyschrei drohend den Gesang durchbricht: Alle fünf halten plötzlich ein Baby in die Luft. Manchmal übernehmen die Waschweiber gar die Funktion eines griechischen Chores: Wie traurig ist die Frau mit den Brüsten aus Sand, skandieren sie da. (Später schmunzeln wir einmal, wenn das Motiv wieder aufgenommen wird, aber es ist natürlich eine bitterere, pointenhafte Beschreibung der Rolle der Frau im Andalusien des frühen 20. Jahrhunderts: Wie traurig ist die unfruchtbare Frau!„Sie könnte doch Apfelmarmelade kochen…!) Wie bei einer musikalischen Partitur wechseln sich die kurzen Sprechszenen mit der eingespielten Musik und dem Raunen der Weiber ab.

Motivisch allerdings bleibt die Aufführung im archaischen Andalusien stecken; da Cilla Back weder Parallelen zu Frauenrechts-Themen von heute zieht noch sich auch nur ansatzweise Lorcas Nähe zum Surrealismus bedient, geht uns die Aufführung lange Zeit nichts an. Wäre da nicht die ungeheuer variable Interpretation der Yerma -Rolle durch Bettina Engelhardt. Auch die nervt den aufgeklärten Zuschauer von heute, wenn sie zu Beginn bereitwillig die Rolle des Weibchens übernimmt, der freiwillig sich unterordnenden Bäuerin, die das Glück ausschließlich in einer Zukunft als drinnen waltende züchtige Hausfrau und Mutter der Kinder sieht. Aber Engelhardt hat mehr drauf: Vielschichtig entwickelt sie ihre Figur. Hass bricht aus ihr heraus, wenn sie der „ungläubigen Alten“ über ihre Gefühle beim Beischlaf berichtet, sensibel zeigt sie unterdrückte Eifersucht, als die junge Maria schwanger wird, weich und scheu flirtet sie mit dem Hirten Victor und entwickelt dabei doch erste Ansätze von Selbstbewusstsein. Je mehr Härte sie sich im Laufe der Handlung zulegt, desto mehr Persönlichkeit bekommt ihre Figur; Nervosität, Resignation, innere Auflehnung und unterdrückte Aggressivität wechseln sich ab in ihrem Spiel – es ist großartig, Bettina Engelhardt bei diesen inneren Kämpfen zuzuschauen. Die Sohlen der Hausschuhe wendet sie, das uns inzwischen aus der arabischen Kultur bekannte Bild zitierend, gegen ihren Gatten Juan, bevor sie ihm die Schuhe doch wieder unterwürfig vor die Füße stellt.

Sie steckt voller Angst und Verzweiflung – und gewinnt doch an Statur. Die Beziehung zu Juan wird zunehmend zu einem gegenseitigen Belauern, und ausgerechnet als am Ende bei dem seine Zeugungsunfähigkeit eingestehenden Juan ein Funken Liebe zu erwachen scheint, erwürgt Yerma ihren Mann mit ihrem Zopf. Ich habe meinen Sohn getötet, sagt sie. Ihren Traum von einem Sohn. Plötzlich sind wir eine Generation weiter: bei Martha und George aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf…?

Mit dem Schlussapplaus ereignet sich am Premierenabend ein selten so offen zu Tage tretendes Schauspiel. Wir erleben, welch enorme Anspannung sich bei Bettina Engelhardt löst: Zaghaft, fast ängstlich nähert sie sich der Rampe, dann treten ihr Tränen in die Augen ob des großen Beifalls – und schließlich tanzt sie völlig losgelöst über die Bühne. Vielleicht hat auch sie gespürt, dass Cilla Backs Regie-Stil einem Tanz auf der Rasierklinge glich, dass die Aufführung mehrfach am Rande des Absturzes war. Die Dringlichkeit von Lorcas Thema zu beglaubigen, ist dem Bochumer Team nicht gelungen. Im Gegenteil: Das Stück scheint heute verzichtbar. Die hervorragende Lichtregie von Jan Bregenzer, einzelne choreographische Kniffe und die „ungläubige Alte“ (desillusioniert und kalt, die Seele mit einem Panzer wappnend: Ute Zehlen) hielten uns halbwegs bei der Stange. Letztlich aber ist es ausschließlich die Intensität des Spiels von Bettina Engelhardt, die diese Aufführung sehenswert macht. Über das Stück mag man knöttern. Aber Bettina Engelhardt, die kann mehr als Apfelmarmelade kochen.