Übrigens …

Rausch im Schauspielhaus Düsseldorf

Sex im Occupy-Lager

Hat sich eigentlich schon einmal jemand die Frage gestellt, was die Leute im Occupy-Zeltlager so den lieben langen Tag über tun, wenn sie nicht gerade demonstrieren oder sich polizeilicher Räumungsaktionen erwehren? „Liebe Mutti“, schreibt einer, „jetzt bin ich schon mehr als drei Monate hier im Zeltlager, und ich habe noch immer kein Mädchen gefunden. Dabei war das doch der wichtigste Grund, warum ich mich der Occupy-Bewegung angeschlossen habe.“

Don’t worry, Kumpel, nach dem Pfefferspray-Angriff der bösen Polizei krabbelt sicher mal eine(r) zu dir in den Schlafsack – aber ob es dann der Wunschpartner ist? Irgendwann aber stellst du fest, wie schön es hier ist, denn du bist jetzt Teil eines Wir. Und wir teilnehmende Beobachter merken, dass das Zeltlager auch eine Gelegenheit zur experimentellen Erprobung verschiedener Arten der Beziehung ist. Oder zum Ausleben von Indianer- und Wildwest-Romantik. Mit Pfefferspray. Und mit Demos zur Abschaffung von FDP und CDU und katholischer Kirche, der falschen Konzepte von Kirche, Kapitalismus und degeneriertem Adel, von Gier, Kälte und Egoismus. Bloß Zeit für Muttis und Vatis Geburtstage bleibt keine.

Die Szene mit den Occupy-Bewegten ist in Falk Richters und Anouk van Dijks Projekt Rausch nur eine von vielen, in denen der Regisseur und die Choreographin ironische Schlaglichter auf die Lebensumstände und Kommunikationsformen heutiger junger Menschen werfen. Eine der hitzigeren zudem, denn wir sind längst im zweiten Teil des Abends, dessen Betriebstemperatur trotz steten Wechsels zwischen ruhigeren Schauspiel-Szenen und rasantem Tanztheater immer mehr ansteigt. Die Ironie hat mal aggressive Untertöne wie in der beschriebenen Szene, in der Ideologen mit glühenden Augen und kalter Stimme hitzige Argumente ins Publikum schleudern; mal löst sie eine gewisse Trauer aus. Politik oder die Diktatur des Finanzmarkts spielen eigentlich eine untergeordnete Rolle: Vor allem geht es um veränderte Beziehungsmuster: Sex im Occupy-Lager eben. Oder die negativen Einflüsse von Ängsten auf die Beziehung: von Ängsten vor dem Untergang Europas, dem Untergang des Geldes: Stefan ist im Bett „unruhiger als der Markt beim Zusammenbruch von Lehman Brothers“ und kratzt sich die Haut in blutigen Streifen vom Leibe - Black Swan lässt grüßen. Manchmal wird aus der Ironie der Inszenierung aber auch hinreißendes Kabarett: Wie Thomas Wodianka den Paartherapeuten karikiert, der die kriselnde Beziehung des jungen Paares Aleksandar Radenkovic und Lea Draeger flicken soll, gehört zu den komödiantischen Glanzleistungen dieser Spielzeit am Düsseldorfer Schauspielhaus. 

Vor allem aber blickt die Inszenierung auf die Liebe in den Zeiten des Internets. Und die geht eben über Facebook. So à la: „Wer adoptiert mich für eine Nacht? Biete Sex und koche sehr gut.“ Über unendliche verbale Diarrhoe am Computer. Frühzeitig zeichnen sich Beziehungskrisen ab: Wenn der eine in seinem Facebook-Status noch „single“ angibt, die andere den Status aber schon an die neue Liaison angepasst hat. Wenn die PC-Sucht nicht kontrollierbar ist: „Check doch nicht immer dein Facebook-Account, wenn wir uns küssen!“ Liebe kann ein Rausch sein, aber auch versickern im Rauschen des Internets.

Aleksandar Radenkovic macht das verzweifelte Sehnen nach Liebe und wahren Beziehungen deutlich: „I want you to make me happy, I want you to smile, I want you to kiss me“ – alles ganz normal: dann aber kommt wieder: der Facebook-Status, der Wunsch nach Mails & Messages, und: „I want to see you naked on Skype.“ Und dann setzt sie ein, die großartige Musik von Ben Frost, dann tanzen die wunderbaren Tänzer von Anouk van Dijk, rauschartig, in einer wilden Hetzjagd, in mitreißenden Rhythmen immer stärker anschwellend, bedrohlich bisweilen: wir spüren die Sehnsucht und Verzweiflung, aber auch die unerfüllbaren Ansprüche der Liebe. – Später, als wir erfahren haben, dass man das Schöne und das Aufregende bei Facebook findet, zu Hause aber die ganzen Alltagsprobleme warten, und als Radenkovic insistierend fragt: „Liebst du mich wirklich?“, bricht erneut die brodelnde Emotion des Tanzes und der Musik über uns herein, computergestützt zwar auch sie, aber unmittelbarer als das, was die Schauspieler bei Facebook erleben: ein wilder Hexentanz, van Dijks Walpurgisnacht: „I want your skin, I want your life, I want your blood!“ Der grandiose Höhepunkt des Abends, fesselnd in seiner Dynamik und seiner Aussagekraft. „I want you“, rufen die Akteure – und schmettern sich gegenseitig gegen die Wand. Das Licht im Saal geht an: Es sei ein Fehler der Menschheit, zu glauben, dass zwei Menschen miteinander gleichberechtigt sein können, sagt Thomas Wodianka zu uns. Eine steile These - in der eine Menge Wahrheit steckt?

Gleichberechtigt aber stehen in Falk Richters und Anouk van Dijks Inszenierung Tanz und Schauspiel nebeneinander; mehr und mehr übernehmen die Tänzer auch sprachliche Partien und die Schauspieler tänzerische. Harmonisch ergänzen sich beide Sparten zu einer faszinierenden, ungeheuer intensiven Collage, die fordert, aber nicht überfordert, die manchmal laut ist, aber nie schmerzhaft, die manchmal lustig ist, aber niemals billig, die die Emotionen gleichermaßen anspricht wie den Intellekt. Mit Andrea Breths Marija hat das Düsseldorfer Schauspielhaus bereits die herausragende Aufführung für den konventionell orientierten, weniger wagemutigen Zuschauer im Repertoire: Nun hat es mit Rausch auch ein Theaterereignis für das die junge, experimentelle, spartenübergreifende Kunst liebende Publikum.