Eindringliches „Beben“ mit Kleist-Einsprengseln
Normalerweise dauern Erdbeben meist nur Sekunden oder Minuten und richten Fürchterliches an. Die Uraufführung des Stücks Beben des chilenischen Autors Guillermo Calderón, der im Studio Central des Düsseldorfer Schauspielhauses auch selbst die Regie führte, dauerte pausenlose 100 Minuten. Was die vier jungen Schauspieler in dieser Zeit auf der gänzlich schwarzen Bühne von nur wenigen Stabtaschenlampen beleuchtet schafften, war eindringlichstes emotionales Theater und sorgte beim Schlussapplaus für ein Nachbeben auf den Publikumspodesten.
Zuvor wurden die Zuschauer in kleinen Grüppchen von mit grellen Taschenlampen und reflektierenden Warnwesten versehenen Stuhlanweisern zu ihren Plätzen geleitet. Einzige Requisite: ein paar umgekippte Stühle, ein weißes Zelt mit zwei bis drei Hockern davor. Das Erdbeben in Chile von 2010 ist also schon passiert. Die kleine Gruppe freiwilliger Helfer - drei junge Frauen, ein Mann - aus Deutschland, die sich im Katastrophengebiet um Waisenkinder kümmert, diskutiert über die Ereignisse des zurückliegenden Tages. Karin (Xenia Noetzelmann) hat den Kindern die 200 Jahre alte, brutale Geschichte Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist erzählt. Und das führt zu einem tiefgreifenden Konflikt zwischen den Helfern.
In Kleists frei erfundener Erzählung geht es um ein Erdbeben in einem ihm vollkommen unbekannten südamerikanischen Land. Das Beben verhindert den Tod eines heimlichen Liebespaares, des Lehrers Jeronimo und der Schülerin Josephe. Beide befanden sich – wie Kleist schreibt – in einem „zärtlichen Einverständnis“. Ein Kind ist unterwegs, und die beiden sollen hingerichtet werden. Sie überleben nur dank eines just in diesem Moment ausbrechenden Erdbebens. Das Glück aber ist nur von kurzer Dauer. Denn als die Kirche das Erdbeben als Folge ihrer schändlichen Beziehung brandmarkt, werden Jeronimo und Josephe erschlagen. Allein das Baby überlebt, weil der Mob es verwechselt und findet neue Eltern.
Diese Geschichte wird detailliert und bis ins kleinste ausgeschmückt von Karin erzählt. Anna (Janina Sachau), die Chefin der kleinen Gruppe, unterbricht sie ständig und macht ihr Vorwürfe, traumatisierten Kindern solche blutige Geschichte zu erzählen. Maria und Willy, die beiden anderen Gruppenmitglieder mischen sich ein, unterstützen mal die eine, mal die andere Seite. Schnell wird deutlich, dass die Helfer durch die Folgen des Bebens - möglicherweise auch schon früher - aus der Bahn geworfen sind, überfordert, erschöpft und nach Erklärungen für den Grund der Naturkatastrophe suchend.
Calderón erforscht mit Kleists philosophisch-theologischen Fragestellungen die existentiellen Abgründe und Ängste, die sich durch ein Erdbeben solcher Wucht in einer heutigen Gesellschaft auftun. Der Zuschauer erfährt aus den Erzählungen der Helfer von Plünderungen, von Ausgangssperre im Katastrophengebiet, von Hunden, die Leichenteile im Maul tragen und von Aggression und Bedrohung der Helfer durch die Einheimischen. Deren katholischer Glaube und Moralvorstellungen korellieren mit denen der Helfer.
Das Quartett vor dem Hilfszelt graust sich davor, die reale, zerstörte Welt im Katastrophengebiet zu betreten. Abgeschirmt im Lager scheint sie sicher. Der teilweise lautstark ausgetragene Streit um die Geschichte bringt schließlich jeden der vier dazu, aus seiner jeweiligen Rolle auszubrechen. Willy (Ingo Tomi) räumt ein, dass er sich an Plünderungen beteiligt, um die erbeuteten Gegenstände zu verkaufen und das Geld dafür den Notleidenden für einen Neuanfang zu schenken. Die vermeintlich selbstbewusste Anna erzählt unter Tränen, wie sie aus einem anderen Katastrophengebiet als Helferin ausgewiesen wurde, weil man ihr Sozialverhalten unerträglich fand. Auch Maria (Elena Schmidt) und Karin öffnen sich im Gespräch, berichten von den Schrecken des Erdbebens auf Haiti, wo sie ebenfalls geholfen haben und dessen Folgen sie bis heute nicht loslassen.
Das Stück stellt viele Fragen. War das Beben Gott gewollt? War es Strafe für irgendein Verhalten der Menschen in Chile? Wie hilft man Menschen, die alles verloren haben? Was ist die Motivation für Helfer? Und nicht zuletzt auch die Frage danach, wer den Helfern hilft. Antworten gibt es - wie so oft im Theater - nicht. Aber das pessimistische Stück gibt reichlich Anlass, sich mit diesen Fragestellungen auch nach dem Verlassen der Spielstätte intensiv zu beschäftigen. Reichlich verdienten Applaus am Ende für überzeugende Schauspieler, ein wichtiges Stück und eine gute Regie.