Richtig alt, so 45 im Schauspiel Essen

Auf die Papageien folgt der Tod

Die Aufführung begann für den Schreiber dieser Zeilen bereits 15 Minuten vor der Vorstellung. Vor dem Café Overbeck in der Essener Fußgängerzone sprach ihn ein Paar in biblischem Alter an, er noch gut zu Fuß, sie leicht gehbehindert: „Gibt es hier ganz in der Nähe einen Parkplatz?“ – Hintergrund: Man wolle eine alte Freundin, die sich nur mühsam per Rollator fortbewegen könne, demnächst in dieses Café einladen, aber sie werde den Weg dorthin zu Fuß nicht schaffen.

In der Flagship-Klinik „Die Arche“, die sich in der Gesellschaft, die Tamsin Oglesbys neues Stück beschreibt, um die geriatrische Forschung sowie um die Kosten-Nutzen-Relation des Überlebens dementer oder immobil gewordener Mitbürger kümmert, hätte man den dreien – und insbesondere der absenten Rollator-Navigatorin – wohl ein paar Pillen verschrieben. Die führen zu einem gewissen Hochgefühl: Die Alten sehen eine Weile lang Papageien, finden die schön und sterben. Sanfter Tod durch Pillen – der Euthanasie-Gesellschaft dauert das zwar zu lange, aber die Methode ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Der alte Herr vor dem Café Overbeck könnte diesem Schicksal vielleicht noch entgehen, indem er ein paar von überarbeiteten Eltern vernachlässigte Kinder als Enkel adoptiert. Gesellschaftlicher Nutzen würde ihm noch ein paar Zusatz-Lebensjahre einbringen. – Die nette alte Dame am Krückstock könnte es mit Alice halten, die bei Tamsin Oglesby ihren Körper zu medizinischen Testzwecken zur Verfügung stellt – Amputation des kaputten Beins inklusive, aber das funktioniert ja eh nicht mehr richtig. Das gibt auch ein paar Zusatzpunkte, die den Anspruch auf Weiterleben verlängern. Für die Dame mit dem Rollator dagegen sehen wir schwarz – andererseits: immerhin diskutieren die Leute von der Arche auch über die Einrichtung von Senioren-Spuren auf den Bürgersteigen, damit die lahmen Alten die flinken Mehrer des Bruttosozialprodukts aus der Generation U40 nicht aufhalten.

So also geht das zu in der schönen neuen Welt der Tamsin Oglesby. Das klingt nach bitterer Komödie, nach Sarkasmus und schwarzem Humor. Oder nach gesellschaftspolitischer Anklage – bisweilen erinnert die Story an Juli Zehs Corpus Delicti, das ebenfalls im Schauspiel Essen gezeigt wird. Tatsächlich erfreut uns das Stück gelegentlich mit ein paar ironischen Formulierungen, ein paar netten Pointen. Überbordend witzig ist es aber nicht; dafür ist es zu bemüht und seine Figuren sind zu gutmenschelnd. Und den bitteren Sarkasmus müssen wir uns selbst dazu denken: Gesellschaftspolitische Schärfe und sarkastische Vergleiche bieten nur die Videosequenzen vor Beginn der beiden Halbzeiten, als erschreckende Statistiken zur demographischen Entwicklung auf den Vorhang projiziert werden und als dort mit wirklichem schwarzem Humor gezogene Vergleiche zu lesen sind: laut Lexikon ist „alt“ („a“) „im Rennsport ein Pferd, das das 6. Lebensjahr überschritten hat“…

Letztlich krankt der Abend daran, dass sich weder die Autorin noch die Regie entscheiden können, ob sie eine Groteske präsentieren oder eine mit ironischen Ausblicken auf zukünftige Entwicklungen garnierte reale Familiengeschichte erzählen wollen. Nach wenigen Szenen hat sich Pesels Regie den allzu braven Ansätzen der Vorlage angepasst. Zwar versucht der Regisseur, mit den Video-Diagrammen und -Zitaten vor Beginn der beiden Teile und mit dem lautstarken Protest einer im Publikum platzierten Gruppe Essener Senioren in der zweiten Szene des Abends die Brisanz des verhandelten Themas zu verdeutlichen, doch werden beide Ansätze nicht weiterverfolgt: Der stumme Auftritt der Statisten am Ende des Stücks ist eine verschenkte Chance zur weiteren Verankerung des Stücks in unserer Wirklichkeit.

Die personelle Besetzung des 10-Personen-Stückes ist dagegen durchaus gelungen. Sowohl die drei von den staatlich geförderten Arche-Praktiken bedrohten Alten als auch die drei Gesundheitsforscher und Arche-Protagonisten entwickeln deutlich voneinander unterscheidbare Charaktere: Herausragend ist dabei Claudia Amm als Lyn, deren Figur im Verlaufe des Abends die größte Entwicklung nimmt: von der nur ansatzweise vergesslichen selbstbewussten, schlagfertigen, unternehmungslustigen Theaterbesucherin am Anfang zur vollkommen dementen, aber immer noch bauernschlauen Patientin am Schluss. Auch die bravere, allzu vertrauensselige Alice der Ingrid Domann verkörpert, wenngleich schon aufgrund ihres Rollenprofils weniger variabel als Amm, eine realistische Persönlichkeit, die wir aus unserem privaten Umfeld zu kennen glauben. Claus-Dieter Clausnitzer, der alte Mann im Jugendwahn, ein blondiertes und gebräuntes Alters-Model, genießt erkennbar seine Kostümwechsel zu immer schrilleren Rock- und Pop-Outfits, kann aber die Fallhöhe seiner Figur, die Angst vor der Entdeckung seines wahren Alters durch die Gesundheitsdiktatur nicht beglaubigen. Unter den „Arche“-Leuten ist es besonders Holger Kunkel als Monroe, der anfangs mit Zynismus und aalglattem wirtschaftlichem Kalkül fasziniert und später vergeblich als Patient in seiner eigenen Klinik den von ihm selbst eingeführten Fallen zu entgehen versucht: ein armes Würstchen, bedauernswert, mit Chelsea-Schal zum Pyjama...

Insofern hinterlässt der Abend einen disparaten Eindruck. Letztlich ist er zu brav und bieder. Wir sehen alle uns bekannten Probleme des Alterns auf der Bühne: Demenz und körperlichen Verfall, Überforderung der jüngeren Generation und dadurch Entfremdung bis hin zu Hass, Altersdiskriminierung und verzweifeltes Fortlaufen vor dem eigenen Alterungsprozess, das Demographie-Problem und – ja: auch ein wenig Liebe. Aber wir erschrecken nicht – und wir lachen zu selten. Doch wir langweilen uns nicht – was wohl in erster Linie den guten Schauspielern zu verdanken ist. Oder doch dem Thema? Lange diskutierten wir noch über das Stück, ein paar Leute, einander fast fremd, und berichteten über Erlebnisse in der eigenen Familie. Es war keine Groteske, die wir gesehen hatten, aber es war real.