Der Welt abhanden gekommen
Szenische Adaptionen von Prosastoffen sind längst en vogue. Für Köln haben auf Basis der Übersetzung von Swetlana Geier die Chefdramaturgin („…des Jahres 2011“), Rita Thiele, und die in Köln geborene Regisseurin Karin Henkel eine Spielfassung erstellt, welche in die Handlung Lesungen „mit verteilten Rollen“ aus dem Originaltext einstreut. Karin Henkel hat vor Ort zuletzt Tschechows Kirschgarten herausgebracht, eine Produktion, die zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Mit dabei waren Lina Beckmann („Schauspielerin des Jahres 2011“) und Charly Hübner, jetzt das zentrale, emotional scharf kontrastierende Protagonistenpaar Myschkin/Rogoschin. Mit einer Abbildung des Plakates von Alfred Hitchcocks Psycho deutet das Programmheft an, in welche Richtung die Interpretation Karin Henkels zu gehen gedenkt. Andere Fotos zeigen die Verfilmung des Idioten von 1946 an.
So schön wie Gérard Philippe ist Lina Beckmann in Köln sicher nicht. In ihrem Schlabber-Look wirkt ihr Fürst Myschkin eher wie ein Clown, der großen Auges und großen Herzens durch eine Welt von Seelenignoranten und Gefühlsausbeutern stolpert, ein Unschuldsengel, der nicht auf diese Erde passt und deshalb als Idiot gilt. Seine Epilepsie (autobiografischer Querverweis des Dichters) ist im Grunde nur äußerliches Indiz dafür. Man könnte geneigt sein, diesen „im positiven Sinne schönen Menschen“ (so Dostojewskis eigene Charakterisierung) zu einer Christus-Figur zu verklären, zumal vor dem Hintergrund, dass sich der Autor in späten Jahren dem Christentum zuwandte. Aber ganz so faltenlos und von Heiligkeit umflossen ist diese Figur denn doch nicht zu haben, schon gar nicht in Karin Henkels Inszenierung. Ein Literaturkenner hat Myschkin sogar als „inkompetent und impotent“ bezeichnet und weiterhin darauf hingewiesen, dass er und sein Kumpan Rogoschin zwei Seelen in einer Brust sind.
Der rüde Rogoschin begehrt die schöne, in ihrem Charakter unstete Natassja, führt sich ihr gegenüber jedoch auf wie ein Sexualberserker. Myschkin hingegen kniet vor dieser Frau gewissermaßen anbetend auf einem fleckenlosen Teppich. Eine andere Liebe keimt zu Aglaja auf, einer Tochter des Generals Jepantschina. Vor lauter ehrpusseliger Zerrissenheit wird Myschkin entscheidungslos, sagt „ja“ hier, sagt „ja“ dort. Das könnte ihn bei aller Liebenswürdigkeit des Charakters Sympathien beim Zuschauer kosten, wäre da nicht Lina Beckmann. So wie sie spielt, fasst einen der Menschheit ganzer Jammer an, um es mit Goethe auszudrücken. Dabei achtet die Inszenierung darauf, dass keine falsche Glorifizierung Platz greift. Die Regisseurin setzt Myschkin sogar immer wieder mal der Lächerlichkeit aus, so in einer Szene an der Essenstafel, wo der junge Mann - verbal und gestisch gänzlich ungeschickt - von einem Fettnäpfchen ins andere tritt.
Der finale Mord Rogoschins (Charly Hübner mit brachialer Männlichkeit) an Natassja (Lena Schwarz mit extrovertierter Primadonnen-Attitüde) wird zu Beginn vorweg genommen. Vor einem Marterbild sitzen er und Myschkin neben der Leiche und spielen auf dem leblosen Körper Karten. Schon hier zeigt sich eine Vorgehensweise der Inszenierung, welche Überbemitleidung nicht zulässt und immer wieder ironische Stoßdämpfer einbaut. Auch die Bühnenfassung in ihrer Mischung aus realem Spiel und Lesepassagen schafft Distanz. Unter den Darstellerin ist es vor allem York Dippe, der aus seiner Rolle (Jepantschina) häufig herausfällt und dann einen theatralischen Conférencier mimt. Der Selbstmordversuch seines Neffen Ippolit gerät zu einer Lachnummer. Auch sonst kommt es zu slapstickartigen Eigenwilligkeiten, die vom Stück wegführen. Wirkungsvolle Auftritte haben neben den bereits genannten Darstellern Joerdis Triebel, Angelika Richter und Markus John. Muriel Gerstners Bühne ist so etwas wie die Müllhalde des Lebens.