Püppchens Wünsche, Dichters Klagen
„Rumlaufen erforderlich!“, steht auf dem DIN A 4-Zettel im Treppenhaus, durch das wir hinuntersteigen auf dem Weg vom Hintereingang zur Großen Bühne des Dortmunder Schauspiels. „On stage“ würden wir platziert, war angekündigt; das kainkollektiv verspricht wieder einmal Ungewöhnliches. Etwas über „Junge Mädchen“ bei Lessing, junge, schöne und verführerische Frauen, die meistens sterben müssen – oder über das „Junge-Mädchen“, den „Modell-Bürger, wie die Warengesellschaft ihn definiert“, wie der Programmzettel das französische Autoren-Kollektiv Tiqqun zitiert, über den jugendlichen Menschen in einem „Lebensabschnitt, der durch eine reine Konsumbeziehung zur Zivilgesellschaft geprägt wird“.
Das klingt pessimistisch, aber zunächst müssen wir schmunzeln: Seitlich betreten wir die Bühne und sehen links neben uns den „Chor der Zaubermädchen“. So wahnsinnig jung sind die meisten nicht, und wenn uns nicht alles täuscht, haben sich auch ein paar Männer darunter geschmuggelt. Aber schöne Tüll-Röckchen tragen sie alle. Leise erklingt das Deutschland-Lied. Ein Sprecher droht an, die kommende Aufführung werde fünf Stunden dauern (was sich erfreulicherweise nicht annähernd bewahrheitet), und erzählt etwas vom Weg zur Gralsburg. In der hat sich, so mag man die weiteren einleitenden Worte interpretieren, die klassische deutsche Literatur verschanzt, zu „einer Zeit, als Deutschland schlief“, während England, Frankreich und Amerika mit ihrer jeweiligen wirtschaftlichen oder politischen Entwicklung beschäftigt waren. Schloss auch Lessing sich in der Gralsburg ein?
Aus der Unterbühne fährt nun eine durchsichtige Box hervor, in der „das junge Mädchen“ sitzt: die Schauspielerin Merle Wasmuth, die in den nächsten gut 100 Minuten nahezu den gesamten schwierigen Text zu schultern hat. Sie verkörpert Lessings junge Frauen: diejenigen, die sterben mussten wie Sara Sampson oder Emilia Galotti, zuvörderst aber Recha, die nicht starb, aber „als Braut getötet und als Schwester neu geboren“ wurde. Merle findet in ihrer Box so manche Requisiten: den „Recha-Becher“ für den Kaffee, einen Laptop, die VOGUE, ein Bügeleisen und Joseph Beuys‘ toten Hasen, der uns aber ebenso wenig die Bilder erklärt wie sie ihm erklärt werden: Beuys ist leider schon genau so tot wie Lessing.
Aber die jungen Mädchen sind es nicht. Die leben fort; auf ziemlich abenteuerliche Weise versuchen Fabian Lettow und sein Team eine Brücke zu schlagen von Lessings unmündigen reinen Mädchen, die bei Lichte betrachtet eher Püppchen waren, zu den von der Warenwelt faszinierten, von der Werbewelt verführten hübschen jungen Dingern von heute. „Was soll ich mir noch wünschen, wenn irgendwann all meine Wünsche erfüllt sein sollten?“, fragt Recha sinngemäß – so manche unserer 18jährigen Töchter stehen heute vor einer ähnlichen Frage.
Vogue und Bügeleisen weisen auf diese Verbindung sinnfällig hin; Merle Wasmuths Kostümwechsel ebenfalls: Dreht sie sich lange Zeit im historischen Kleid um die raumhohe Videowand, die die Bühne in zwei Teile schneidet und um die herum auch wir Zuschauer immer wieder zirkulieren, so trägt sie später einen flotten Hosenanzug und einen chicen grünen Fummel – Hingucker alle drei: die Frau als in die Rolle des Objekts der Begierde gedrängtes Wesen. Die Frau, die mit dem Kauf neuer Kleider gegen die innere Leere ankämpft: „… diese Leere, die bloß nicht aufkommen darf. Diese Leere, die da ist, weil alles so voll ist von den leuchtenden Bildern und leeren Namen und toten Waren, die die riesigen Galerien füllen.“ – „Ein Kaufhaus …, das Größte, was man sich vorstellen kann, … aber das kann doch nicht alles sein.“ heißt es weiter. – Bereits im Anschluss an eine lange Sara Sampson Szene hatte Wasmuth militant gegen ihren Reifrock gewütet: Geht es im Umfeld der jungen Mädchen nur um den funktionierenden Körper, um Kleidung, um Jugendlichkeit, um die Schönheit der Menschen?
Der tote Hase, der keinem die Bilder erklärt, steht leider auch für die Ratlosigkeit, die sich beim gelegentlich überforderten Publikum breit macht. Das Produktionsteam hat eine großartige gedankliche Leistung vollbracht, aber das ausgebreitete umfangreiche Assoziationsmaterial wird den Zuschauern kaum erläutert. Die Inszenierung bedient sich nicht nur der Lessingschen Dramen: süße Mädels gab es ja auch bei Arthur Schnitzler, Merle Wasmuth spricht einen Monolog von Fräulein Else; Büchner wird zitiert, Heiner Müllers Herzstück, sein Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei: „ich habe einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt…“. Immer wieder tauchen Themen aus Parzival auf.
Als Lessing den von Müller zitierten Traum von Theater träumte, ging es ihm noch gut. Seine Stücke wurden an den Theatern des Landes gespielt; er war Sekretär eines Generals im Siebenjährigen Krieg; er verdiente gut und heiratete seine große Liebe Eva König. – Gebückt, gramgebeugt spielt Wasmuth den Lessing im Jahre seines Todes: Der frühere Glückspilz ist krank, mittellos, trunksüchtig und fettleibig, ist Witwer und ein Sozialfall: Die Ringparabel fliegt ins Publikum, das „Märchen von der Toleranz“, das man immer wieder erzählen müsse, an das aber keiner glaubt: Auf den Zetteln, die ein ständig anwesender Braunbär mit schwarz-rot-goldenen Aufklebern in die Menge wirft, wird die Parabel auf das Thema monetärer Bedürfnisse reduziert. Lessing fühlt sich nicht erkannt, nicht verstanden. Im Heiner-Müller-Text klingen Klagen Lessings an über die Geschichte, die Freunde und das Vergessen. Neben den ins 21. Jahrhundert herüberwehenden Zaubermädchen ist dies der zweite Strang der kainkollektiv-Performance: die Gespenster, von denen der Dichter selbst sich verfolgt fühlte.
Schwierig? – Ja, biographische Details aus Lessings Leben werden als bekannt vorausgesetzt, in einem Irrgarten von Literaturzitaten können wir uns verlaufen. Da hilft nur, sich treiben zu lassen von den Bildern auf der Bühne und auf der Videowand, von den hervorragend gesprochenen Texten (Merle Wasmuth improvisiert häufig und bringt sogar tagesaktuelle Ereignisse wie die Dortmunder Nazi-Demo vom Nachmittag des Premierentages in der Aufführung unter), vom Dortmunder Sprechchor, der auch sängerische und tänzerische Einlagen bietet – und von der hervorragenden Musik des Trios Carsten Langer, Eva Maria Mitter und Benjamin Reissenberger. Auch die Musik ist vielfältig und beziehungsreich: Da gibt es Haydn und Mauricio Kagel, Messiaen und einen eurasischen Tango – und Lieder von Marlene Dietrich: „Wenn ich mir was wünschen dürfte…“
Wünsche. Die Wünsche der Leere: nach chicen Klamotten? Die Wünsche unemanzipierter Lessing-Girls? Der Wunsch Lessings, „es auch einmal so gut (zu haben) wie andere Menschen, aber es ist mir schlecht bekommen“? Oder die Wünsche nach dem Glücklichsein, jenseits alles Materiellen, in der utopischen Harmonie der Ringparabel? – „Dummes Menschenkind“, singt Marlene, „Wünsche sind nur schön / solang sie unerfüllbar sind.“