Übrigens …

Wastwater im Köln, Schauspiel

Stille Wasser sind tief

Es ist nicht immer einfach, mit unseren Töchtern ins Gespräch zu kommen. Eltern sind ja erstmal doof. Aber Klamotten geh’n immer: „Ist das dein neues Kleid? Das steht dir aber gut!“ – Schon strahlt die Tochter: „Danke!“ Und es gibt die Chance auf mehr. - Warum also zucken wir zusammen, wenn Jonathan, verständlicherweise unsicher, auf die ihm gerade vorgestellte künftige Adoptivtochter zugeht? „Dein Kleid gefällt mir“, sagt Jonathan zu der neunjährigen Dalisay. Und es gibt uns einen Stich ins Herz. Jonathan macht einen Schritt auf Dalisay zu. Sie weicht zurück. Blackout.

Wenn man Simon Stephens beim Wort nimmt, geht es in seinem Stück Wastwater eigentlich um nichts. Es sei ein Triptychon aus drei kurzen Stücken: „Ein Stück hat mit Abschied zu tun, eines geht um ein Paar auf der Durchreise, und im letzten geht es um eine Ankunft. Sie hängen nicht unmittelbar zusammen, sie küssen sich nur ein wenig, sie grüßen sich“, hatte Stephens bei einer Diskussion im Schauspiel Frankfurt, dokumentiert in Theater heute, erläutert. Warum erschrecken wir dann?

Weil Stephens das britische Understatement nicht nur in der Diskussion, sondern auch in seinen Dramen auf die Spitze treibt. Weil die drei Stücke eben doch irgendwie zusammen-hängen. Weil wir Jonathan, der Dalisay gerade von der Kinder-Schlepperorganisation ankauft, längst identifiziert haben als den Lehrer von Mark aus Teil 2 des Triptychons: den Lehrer, der der Schülerin, die zufällig Marks Freundin war, merkwürdige Avancen machte und dem Mark eine gescheuert hat. Weil der Lehrer von Martin Reinke so suggestiv gespielt wird: als Spießer, als Jammerlappen, vor allem aber schmierig, verängstigt, verklemmt. Unsere Phantasie sagt: der Prototyp eines Kinderschänders, scheinbar zu allem bereit.

Und weil das Stück Wastwater heißt. Der Titel ist so sinnlos wie metaphorisch. Mit dem gleichnamigen See im englischen Lake District hat das Stück nicht im Geringsten etwas zu tun, aber „Wastwater“ ist der tiefste See Englands. Stille Wasser sind tief. Inmitten einer Bergkette wird der See niemals vollständig von der Sonne beschienen. „Von einer Seite liegt immer Schatten über Wastwater.“ So wie über den Personen in den drei nur ganz lose miteinander verbundenen Stücken. Wenn Licht auf sie fällt, ist es Zwielicht. Für Dalisay jedenfalls befürchten wir das Schlimmste.

Wastwater ist ein verdammt gut komponiertes Stück. Man muss ihm konzentriert folgen, um den dunklen Geheimnissen der handelnden Personen auf die Spur zu kommen, sich Namen merken, winzige Andeutungen aufnehmen. Tut man dies, macht es einen frösteln. Beschädigt sind alle, zu beschädigen vermögen die meisten.

Die offensichtlichste Beschädigung hat Lisa im zweiten Teil des Triptychons. Die verheiratete Frau trifft sich mit ihrem Liebhaber Mark im Flughafen-Hotel, doch bevor es ins Bett geht, erzählt sie Mark von ihrer Vergangenheit als Porno-Queen, von ihren sadomasochistischen Neigungen. Was Mark emotional in die Flucht schlägt. Judith Rosmair spielt die Lisa scheinbar selbstbewusst und lässt uns doch spüren, dass ihre Figur unter der paillettenbesetzten schimmernden Oberfläche längst kaputt ist. Mark erzählt von besagtem Lehrer und von seinem besten Studenten Gavin, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Harry berichtet seiner Pflegemutter in Teil 1 des Stückes, dass er sich wegen Gavin immer noch schuldig fühlt. „Du darfst dich nie hassen“, sagt Frieda. „Es gibt Dinge, die du getan hast … und die für immer und ewig mit dir leben.“ Sätze wie Pistolenschüsse unter Schalldämpfer: leise, aber tödlich. – Frieda wiederum ist auch Pflegemutter von Sian gewesen – der zynischen Kinderschlepperin aus Teil 3.

Auf solch unauffällige Weise sind die drei Stücke miteinander verbunden; scheinbar belanglose Sätze bekommen manchmal erst im Nachhinein tragische Bedeutung. Kaum wahrnehmbar decouvrieren die Dialoge die mit feinster Klinge gesetzten Verletzungen der Personen. Die sechs Schauspieler in den drei Paar-Szenen entwickeln deutlich voneinander unterscheidbare Charaktere; Rosmair überzeugt mit ihren Zwischentönen, Pauline Knof als Sian durch die emotionale Brutalität, mit der sie auf die offensichtlich in der Pflegefamilie empfundenen Verletzungen reagiert, Carlo Ljubek als Harry durch die in seiner Artikulation zur Schau getragene Selbstsicherheit und Ich-Bezogenheit, die oft seinen Aussagen zu widersprechen scheint. „Herrlich, dich beim Reden zu beobachten“, sagt Frieda zu Harry. Stimmt, aber wir spüren: Darunter liegt noch etwas anderes…

Und doch: Trotz der hervorragenden schauspielerischen Leistungen bleibt der Satz mit dem Kleid der einzige, der ins Herz trifft. Regie-Altmeister Dieter Giesing inszeniert das Stück so wie er schon Stephens‘ Motortown oder Martin Crimps Auf dem Land vor Jahren am Schauspielhaus Bochum eingerichtet hat: Hinter kühler Eleganz verstecken sich ein Krimi oder Psycho-Thriller, auf den nur zaghafteste Andeutungen hinweisen. Giesing ist ein Meister des Zwielichts und eine Koryphäe in der präzisen, einfühlsamen Schauspielerführung. Aber er scheut sich vor der Zuspitzung. Wir müssen den Grusel, der über Wastwater liegt, schon selbst herauskitzeln. Man möchte das Stück gespenstischer erleben, die Schatten über dem See bedrohlicher empfinden.

Aber solche Zuspitzung ist Giesings Sache nicht. Wir haben das zu akzeptieren. Giesing hört auf den Text und zwingt uns, das Gleiche zu tun. Wer’s unterlässt, verpasst die Geisterbahn.