Rodolfo in der Rennpappe
Manchmal hat man das Gefühl, eine Theater-Inszenierung, ja selbst eine einzelne Aufführung sei ein lernendes System. Die junge Regisseurin Barbara Hauck hat sich für ihre allererste Regie-Arbeit Aki Kaurismäkis Das Leben der Bohème vorgenommen und im Vorfeld der Premiere angekündigt, sie werde neben dem aus dem Jahre 1992 stammenden Film auch Motive aus der Puccini-Oper und aus dem Roman von Henri Murger Scènes de la Vie de Bohème aus dem Jahre 1851, der Kaurismäki seinerzeit inspirierte, einfließen lassen. Und dann beginnt die Angelegenheit doch sklavisch nah am Film, und die vielen Szenen, die nur durch Erzähler berichtet werden, wirken recht betulich. Doch das soll sich schnell ändern.
Erst ganz langsam, dann immer furioser emanzipieren sich die Regisseurin und ihr Schauspieler-Team von der Vorlage und entwickeln eigene kuriose und skurrile Ideen, mit denen sie das Leben der drei verkrachten Künstler-Existenzen und die Liebe des albanischen Malers Rodolfo zur armen Mimi darstellen. Die Story ist schnell zusammengefasst: Der erfolglose Schriftsteller Marcel, der schauerliche Partituren komponierende und daher ebenso erfolglose Musiker Schaunard und der Maler Rodolfo, der nicht nur so gut wie keine Bilder verkauft, sondern auch ohne Aufenthaltserlaubnis im Land weilt, lernen sich kennen und gründen eine WG. Dort leben sie, verschuldet, aber mit Stil den Widrigkeiten trotzend, die ein arbeitsloses Künstlerleben nun mal mit sich bringt; immer mal wieder kommt einer von den dreien zu Geld, das dann aber sofort gemeinsam verprasst wird. Rodolfo erlebt die besagte anrührende Liebesgeschichte mit einer Menge Komplikationen, und das Ende ist irgendwie schön, aber tragisch. Und natürlich ist das Ganze sehr Kaurismäki, also liebevoll versponnen, melancholisch und voller Zuneigung zu den Figuren, die allesamt Verlierer-Typen sind.
Barbara Hauck bringt diese Geschichte im „Theater unten“ zur Aufführung, auf der itzy bitzy teenie weenie Mini-Bühne im Keller des Schauspielhauses. Unmittelbarkeit ist also garantiert und die Beschränkung auf einfachste Theatermittel erforderlich. – Einfach? Das sagen Sie mal der Bühnen- und Kostümbildnerin Johanna van Gehren! Die hat Akkordarbeit geleistet und einen grandiosen Job gemacht. Die Multifunktionalität der Requisiten ist frappierend; in der klaustrophobischen, mit jeder Menge Pröll vollgestellten Wohnung unserer drei Bohèmiens ist die Eingangstür auch schon mal Duschkabine, wird die Staffelei zum Lattenrost des schnell gebauten Betts und aus dem Kühlschrank der Laden der Pfandleiherin. Schaunards Dreirad-Auto, der Reliant Robin, wird kurzerhand durch eine in die Horizontale verfrachtete Vase dargestellt. Grandios die Idee, den Trabbi, die DDR-„Rennpappe“, einfach durch einen rasenden Pappkarton zu verkörpern, dem Daniel Stock in Windeseile gleich fünfmal in unterschiedlicher Verkleidung entsteigt. Überhaupt: Die Anzahl der von den fünf Schauspielern genutzten Kostüme dürfte in Inszenierungen von Giacomo Puccinis Oper kaum größer sein. Die Kostüme sind schrill, witzig, einfallsreich – ein Meisterwerk Mimis Rock aus unzähligen Krawatten - und werden in rasendem Tempo gewechselt: Unglaublich viele kleine Nebenfiguren hat der Film von Aki Kaurismäki, und in Bochum ist, so scheint es, keine von ihnen gestrichen. Da muss eben Klaus Weiß auch mal schnell für weniger als fünf Sekunden (!) in die Rolle der alten Streichholzverkäuferin schlüpfen.
Klaus Weiß, der Alterspräsident des Bochumer Ensembles, spielt vorwiegend die distinguierten Figuren in dieser Geschichte, den Zuckerfabrikanten zum Beispiel, oder den seriösen Barmann; der Kontrast zu den schrillen verkrachten Existenzen der drei Künstler wird so geschickt hervorgehoben und die skurrile Wirkung beider Personengruppen verstärkt. Ronald Riebeling als ein wenig aus den Fugen geratener Komponist mit langer roter Matte und wunderschön debilem Lächeln oder als atemberaubende Karikatur des „eleganten jungen Mannes“, Daniel Stock, den wir so variabel und spielfreudig in Bochum noch nicht sahen, als ungeschickter und gutherziger Rodolfo, Katharina Bach als mal zickige, mal anschmiegsame, mal verliebte, mal unglückliche Mimi erfreuen uns mit wunderbaren Miniaturen – und Barbara Hauck, die all dies angerichtet hat, findet sogar zu Metaphern, die uns aus dem Film nicht erinnerlich sind: der großen gebenden Hand, wenn der Bohème doch einmal Gutes widerfährt, oder, schöner noch, der wiederkehrenden Suche nach dem Schlüssel: dem Schlüssel zu Liebe, Glück und Zufriedenheit.
So hat denn Barbara Hauck in dem System ihrer Inszenierung schnell gelernt, sich von der Lakonie der Kaurismäki-Vorlage zu lösen und sich mehr den anarchischen, komödiantischen, oft auch poetischen Theatermitteln zu nähern – und damit den Mitteln der leider viel zu jung verstorbenen Stephanie Sewella, die am Schauspiel Essen seinerzeit ebenfalls unter dem Intendanten Anselm Weber Kaurismäkis Wolken ziehen vorüber inszenierte. Das Versponnene der Kaurismäki-Figuren und die Liebe des Filmemachers zu seinen Protagonisten hat sie mit eigenen Mitteln aufgegriffen und dabei mit viel Phantasie einen dritten Teil der damaligen Sewella-Serie Liebe in Zeiten des Prekariats geschaffen – des Künstler-Prekariats diesmal. Ein gelungenes, charmantes Regie-Debut.