Kampf der Elsen
Geheimnisvoll drohende Thriller-Musik erklingt zum Auftakt von Charlene Markows Inszenierung im Gewölbe des Bochumer Theaters an der Rottstraße. Else liegt, an Händen und Füßen angekettet, wie wir später merken werden, links auf einer kleinen Liege; eine streng gekleidete Psychologin in hochgeschlossener, züchtiger Businesswoman-Bluse interviewt sie: „Wissen Sie, was Sie getan haben? … Nackt ins Musikzimmer…“
Nackt ins Musikzimmer - das ist in der Tat die Climax in Arthur Schnitzlers 1924 erschienener Novelle Fräulein Else: Else geht nur mit einem Mantel bekleidet ins Musikzimmer, entblößt sich unter anderem vor Herrn von Dorsday und vor dem ihre Sinne bereits zuvor entfachenden „Filou“ und bricht zusammen. Else T. (19), Tochter eines Wiener Anwalts, als Mitglied der gehobenen Gesellschaft nicht für den Eintritt ins Berufsleben, sondern für eine lukrative Eheschließung vorgesehen, verbringt einen Urlaub im italienischen San Martino und guckt sich alles, was halbwegs nach Mann aussieht, auf seine Eignung zum ersten erotischen Abenteuer an. Papa leidet, wie der Leser bald erfährt, an Spielsucht, steht gerade vor der Verhaftung, weil er mündelsicheres Geld veruntreut hat, und lässt seine Tochter bitten, den in der gleichen Pension urlaubenden Kunsthändler von Dorsday anzupumpen. Der entpuppt sich auf Püppchens etwas naive Ansprache als ziemlicher Schmierlappen und verspricht Hilfe unter der Voraussetzung, dass er das hübsche Fräulein eine Viertelstunde lang in dem paradiesischen Zustande angaffen darf, in dem Gott es geschaffen hat. In fiebriger Gedankenverwirrung durchlebt Else binnen weniger Stunden so manche Seelenpein, absolviert ihren kompromittierenden Auftritt im Musikzimmer, schluckt eine Packung Veronal und – na ja, vermutlich stirbt sie dran, vielleicht aber auch nicht; sie kann’s uns wegen Schnitzlers monologischer Erzählweise nicht mehr selbst berichten.
Wer Schnitzler inszeniert, wird heute nicht nur den oberflächlichen Handlungsablauf schildern, sondern Bezug auf die Lehren von Schnitzlers Zeitgenossen und spätem Freund Sigmund Freud nehmen. Gerade in den späteren Werken wie der Traumnovelle und Fräulein Else stößt uns Schnitzler mit der Nase drauf: Das komplementäre Verhältnis von Libido und Todestrieb ist eines der Grundthemen bei Freud ebenso wie in Schnitzlers Dichtungen. Freud sitzt auch Else in der monologischen Novelle stets auf den Schultern und flüstert ihr seine Gedanken ins Ohr. Bald entdecken wir in Charlene Markows Inszenierung, dass die hochgeschlossene Business Woman keineswegs eine Psychologin ist, sondern Elses zweites, rationaleres Ich. Das Ich beispielsweise, das Else immer wieder vor dem Griff zum Veronal warnt. Das die Vorgänge nicht verdrängt, sondern beim Namen nennt: den weinerlichen Brief der Mutter zum Beispiel, in der diese Else um Intervention bei von Dorsday bittet. Das die Handlungen Elses auf ihre Motivation hinterfragt: „Fühlst du dich von den gesellschaftlichen Verhältnissen eingezwängt?“ – „Hast du schon mal dein Geschlecht im Spiegel betrachtet?“ Diese rationale Else, von der Folkwang-Absolventin Anja Signitzer kühl und kontrolliert gespielt, hat die Schnitzler-Novelle schon gelesen und analysiert: Elses exhibitionistische Neigungen, ihre Ahnungen von den mangelnden Entfaltungsmöglichkeiten aufgrund ihrer emanzipationsfeindlichen Erziehung und Umwelt, ihre Todessehnsucht sind dieser „Else 2“ glasklar bewusst. Und dieses Bewusstsein treibt „Else 1“, die noch pubertierende, in widersprüchlichen Emotionen gefangene Verena Schulze, in die Enge, kettet sie fest an ihr Leidens-Lager. Diese Else 1 ist, wie sie selbst einmal sagt, „polymorph pervers“, „jeder Teil meines Körpers schenkt mir Vergnügen“; eine eindeutige, klare sexuelle Orientierung scheint noch nicht vorhanden, da sie in ihrer Entwicklung noch auf dem Stand eines kleinen Mädchens ist. – Allerdings ist auch Else 2 den körperlichen Genüssen keineswegs abhold: Zunächst streichelt sie lüstern in einem von ihrem Alter Ego unbeobachteten Moment den Mantel, mit dem Else beim Gang ins Musikzimmer ihre Nacktheit kaschieren wird; später berührt sie ganz ungeniert Brüste und Schamgegend ihrer weniger reifen Zwillingsschwester. Die ist … nun ja: zumindest überrascht. Else 2 dominiert, ja, manipuliert vielleicht gar Else 1 gegen ihren Willen.
Wie diese beiden die inneren Kämpfe einer gespaltenen Persönlichkeit miteinander ausfechten, fasziniert. Im Einklang mit der Musik und den düsteren Andeutungen des spärlichen Bühnenbildes, das mit Schädelbildern mit rätselhafte Substanzen bergenden Marmeladengläsern Assoziationen an einen Folterkeller weckt, fesseln uns die beiden jungen Schauspielerinnen bis zu ihrem gemeinsamen finalen Gang zur Entblätterung.
Aber „nackt ins Musikzimmer“ – ist das heute noch ein Vorgang, der Selbstmordgedanken nach sich zieht? Charlene Markow lässt offen, womit eine heutige Else sich mehr kompromittiert: mit Nacktheit oder mit Armut. Else 1 träumt immer wieder davon, allein am Meer zu liegen, „nackt auf Marmorstufen“. Das mag den erkennbaren exhibitionistischen Phantasien der Schnitzler-Else geschuldet sein. Aber die Markow-Else, so will uns scheinen, schämt sich zwar, weil sie sich vor Dorsday prostituieren soll, aber grundsätzlich doch mehr für die drohende Armut der Familie als für die Nacktheit. Ganz heutig.