Übrigens …

Fegefeuer in Ingolstadt im Westfälisches Landestheater Castrop-Rauxel

Wenn Schmerz in Gewalt umschlägt: Das Fegefeuer der Jugend

Wo sind wir? Auf Kulissen mit abstrakten Zeichnungen läuft ein Mann durch Betonwüsten (im Video von Jens Krause), am Boden liegen zwei Steine (oder sind es Grabplatten? Denkmalsockel?), darauf tanzen Vampire. Aus dem Zuschauerraum feuert jemand mit Waffen auf die Untoten, ist es ein Amokläufer? Aber die Figuren stehen wieder auf und beginnen ein Stück zu spielen, das auch nicht tot zu kriegen ist, das man aber nördlich des Weißwurstäquators zu wenig kennt: Fegefeuer in Ingolstadt. Eine 22jährige Studentin aus Bayern hatte es 1924 geschrieben und ihre ganze rebellische Energie hineingesteckt. Marieluise Fleißer kam direkt aus der verhassten Klosterschule in die Großstadt München; sie schüttelte rasch das Korsett ihrer katholischen Erziehung ab (nachzulesen in ihrem Roman „Eine Zierde für den Verein“) und stürzte sich in die Schwabinger Bohème. Sie lernte Lion Feuchtwanger kennen und Bertolt Brecht, beide förderten die junge Autorin, und dank Brechts Vermittlung kam ihr erstes Stück 1926 in Berlin zur Uraufführung. Eigentlich hätte es Die Fußwaschung heißen sollen, aber die Berliner tauften es einfach um.

Fegefeuer in Ingolstadt erzählt von der Schülerin Olga, die schwanger ist von Pepe, der sie aber sitzen gelassen hat und nun mit Hermine herumzieht. Von der Familie ist wenig Hilfe zu erwarten: die Mutter ist tot, der Vater ein schwächlicher Hysteriker, der Bruder Christian möchte zwar helfen, weiß aber nicht wie, und Clementine ist neidisch auf die bevorzugte Schwester, die nie im Haushalt helfen muss und aufs Gymnasium darf. Jeder ist sich selbst der Nächste, Feindschaften flackern auf, Koalitionen wechseln: es sei ein Stück über „das Rudelgesetz“, sagte die Fleißer über ihr erstes Stück. In diese trostlose Situation kann der Außenseiter einbrechen: Roelle macht sich an Olga heran, verspricht ihr seinen Schutz und Beistand. Der Sohn einer alleinerziehenden und übergriffigen Mutter ist ein verklemmter Junge mit Illusionen über sich selbst und seine Wirkung. Keiner mag ihn, aber er versucht mit allen Mitteln, in diesem „Rudel“ seinen Platz zu finden.

Der Schauspieler Steffen Weixler sieht so gut aus, dass eigentlich nicht einzusehen ist, warum er keinen Erfolg bei den Mädchen haben sollte. Aber er spielt den überspannten, unglücklichen, zwischen Selbsterniedrigung und brutaler Anmaßung schwankenden Roelle so eindringlich, dass man doch sehr gut nachfühlen kann, dass die Anderen nichts von ihm wissen wollen. Auch Olga ist im Grunde von ihm angewidert, als sie ohne ihr Zutun zu seinem „Engel“ wird. Julia Panzilius taucht in der Eingangsszene mit weißen Flügeln auf, erweist sich dann aber als bodenständiges Mädchen, das sich in der Verzweiflung zwar mit Roelle verbündet, ihn aber auch immer wieder zurückstößt. Anders als Roelle ist diese Olga lebensfroh und wäre auch beliebt, hätte sie nicht das Problem, schwanger zu sein und dazu noch diesen Roelle am Bein zu haben. So bleibt sie einsam in ihrem Unglück. Denise Elsen gibt ihrer Schwester Clementine die Erscheinung eines traurigen Clowns und spielt die Rolle so vital, dass sie als eine zweite Außenseiterin ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.

Carola von Seckendorff inszeniert Fegefeuer in Ingolstadt für Jugendliche ab fünfzehn Jahren. Obwohl sie sie viele Lieder aus dem „Gotteslob“ singen, manchmal auch aggressiv schreien lässt, steht die katholisch fromme Atmosphäre, die für die junge Fleißer so wichtig war, nicht im Vordergrund. Expressionistische Bilder wechseln ab mit Disco-Szenen, vor allem aber beeindruckt in dieser abwechslungsreichen Aufführung die Energie, die aus den Problemen und Sehnsüchten der Jugendlichen erwächst und unmittelbar in Gewalt umschlagen kann. So träumt Roelle davon, ein Superheld zu sein, dem alle zu Füßen liegen, während er ihnen auf die Finger tritt. Die Realität ist ernüchternd: Es nützt diesem geschundenen Neurotiker (würde er heute zum „Gotteskrieger“?) nichts, dass er sich zum Auserwählten hochstilisiert und den anderen vorführen will, wie die Engel zu ihm kommen. Stattdessen taucht seine Mutter auf und füttert ihn wie ein kleines Kind (im Video erscheint Carola von Seckendorff verzerrt als Übermutter). Da ist die Luft raus, das „Rudel“ stürzt sich auf ihn: er wird gedemütigt, ausgezogen und ins kalte Wasser getaucht. Auch Olga hilft ihm nicht.

Nur für kurze Zeit sieht es so aus, würde aus den beiden Jugendlichen ein unglückliches Paar werden, in Not und Hass verbunden. Oder – wie die Fleißer Olga sagen lässt: „Auf einem Berg von Ekel haben wir uns zwei Gesichter aufgerichtet, dass sie einander ansehn müssen in Ewigkeit.“ In der Sprache von Marieluise Fleißer ist die Gewalt allgegenwärtig. Carola von Seckendorff hat dafür eindrückliche Bilder gefunden.