Dipsy und Tinky Winky im Reiche Po
Unter „Sommertheater“ firmiert das Außenprojekt des Theaters Dortmund, das für die Dauer von nur sechs Wochen an insgesamt dreizehn Abenden zu sehen sein wird. Die Phoenixhalle auf dem Gelände des ehemaligen Stahlwerks in Dortmund-Hörde erweist sich als genialer Ort für Büchners satirisches Stück über deutsche Kleinstaaterei: Sie ist so riesig, dass man geneigt ist zu glauben, dass sie nahezu den realen Ausmaßen von König Peters Königreich Popo entspricht. Und der große Mittelteil der ehemaligen Industriehalle, in der der größte Teil der knapp zweistündigen Aufführung stattfindet, wirkt erstaunlich multifunktional: Man choreographiere ein paar Musiker in den Raum, und schon mutet er an wie eine südländische Piazza; mit ein paar Lichteffekten wird er zum Rittersaal oder zur Empfangshalle einer Burg; an die Längswand projizierte Kulissen-Videos lassen den Raum zur Straßenfront vor einem hochherrschaftlichen Schloss oder vor italienischen Spargelfeldern mutieren.
Auf der Piazza ist die Hölle los: Musiker, Ausrufer bevölkern den Platz; Valerio, in diesem Lustspiel der reine „Lust“-Knabe, der im Gegensatz zum von Langeweile frustrierten Prinzen das träge Nichtstun genießt, dreht ein paar Runden mit dem russischen Ural-Motorrad-Gespann, das später auch zum fröhlichen Transportmittel für die Reise nach Italien wird; König Peter ist ein Proll in Unterhose und röhrt mit einem pinkfarbenen Volvo-Cabriolet mit Königskrone auf der Motorhaube, Heckflügeln und durchdrehenden Weißwandreifen über die Piazza. Er zieht ein überdimensioniertes Schnupftuch aus dem Leopardenköfferchen und erinnert sich nicht, woran der Riesenknoten darin ihn erinnern sollte – auch den Pimmel in die Unterhose zu stecken, hat er vergessen, was er uns genüsslich und ausgiebig demonstriert. Lenas Gouvernante kurvt auf Rollschuhen herum, der erigierte Spargel auf den Feldern lockt die jungen Damen mit obszönen Stoßbewegungen, und als es heim zur Hochzeit geht, gibt’s Pyrotechnik in der Phoenixhalle – wir sind schließlich in Sichtweite des Westfalenstadions. - Es beschwere sich also keiner, dass er nicht illustres Sommertheater voller plakativer Requisiten- und Kulissen-Phantasien bekäme.
Die Frage ist nur, ob die Interpretation des Stückes mit ähnlich unterhaltsamen Knalleffekten aufwartet. Darüber lässt sich trefflich streiten. Knallchargen jedenfalls sind sie alle, die Schauspieler, die an diesem Abend auftreten. Vom Lummerland-Charme, der das Königreich Popo und insbesondere seinen Herrscher Peter in so vielen Inszenierungen auszeichnet, keine Spur: Regisseur Paolo Magelli und sein Team verzerren Büchners ohnehin zwischen Blödeln und satirischem Absurdistan changierendes Lustspiel in eine fast schmerzhaft schrille RTL-Comedy. Kuschmanns König Peter ist eher der Hartz-IV-Proll, der nachts auf dem Großparkplatz des Einkaufszentrums mit tiefergelegten Golfs und Toyotas stupide Rennen fährt (bisweilen aber auch ein ängstlicher Psychopath); Luise Heyers Gouvernante hat nicht nur ein brandnew pair of roller skates, sondern auch Klingeln auf den Brustwarzen, und Bettina Lieder gibt die Lena sowohl in ihrer Sprechweise als auch in ihren Bewegungen als mechanisches Püppchen, als aufgedrehte Marionette ohne Geist und Verstand. Als Leonce ihrer gewahr wird, trägt Christoph Jöde sie davon wie eine Statue, eine eingefrorene Ballerina – wieso er bei diesem seelenlosen Etwas „den Frühling auf den Wangen und den Winter im Herzen“ erkennt, bleibt uns verborgen. Aber auch Jöde, der immerhin ein herzergreifend dummes Gesicht zu machen versteht, mutiert beim Anblick Lenas zum Teletubby und schreit minutenlang nur „Oh … oh … oh…“ – Tipsy Dipsy und Tinky Winky im Königreich Po – das ist so Laa-Laa.
Großartig allerdings gefällt Uwe Rohbeck als Erster Staatsrat. Mit ernsthaftem Gesicht, scheinbar um höchstmögliche Loyalität zu der geistig verarmten Dynastie seines Kleinstaates bemüht, pustet er schräge Töne aus seiner Piccolo-Trompete und versucht Ordnung zu bringen in ein aus jeglichen Fugen geratenes Staatsgebilde – allen Irrationalitäten zum Trotz: Notfalls treibt er auch den Volvo mit der Reitpeitsche an. Rohbeck gelingt es, seine brilliante Karikatur des Staatsrats um ein paar hintergründige tragische und melancholische Facetten zu bereichern. Zumindest ansatzweise mitzufühlen vermögen wir auch mit der von Leonce so brutal abservierten Rosetta: Einsam steht Eva Verena Müller in der Mitte der Halle, splitternackt, und ihr Bild erscheint zigfach vervielfältigt an der Längswand des Raumes: Doch auch der letzte, zum Äußersten greifende Versuch des liebenden Mädchens, den sich angeödet abwendenden Leonce zu halten, bleibt vergeblich. Der, so werden wir ja kurz darauf erfahren, zieht die mechanische Puppe der denkenden und fühlenden Rosetta vor – fliehend vor jedem ernsthaften Gedanken und jeder Verantwortung, aber dennoch unglücklich.
Leider fügen sich die vielen Einfälle der Regie nicht zu einem harmonischen Ganzen. Manches bleibt zu aktionistisch, mancher grobe Klotz lässt das sensibel komponierte Stück wie einen groben Keil wirken. Mehr leise und nachdenkliche Momente als Kontrast zu den plakativen, comedyhaften Szenen hätten der Inszenierung gut getan. Die Andeutungen von Todessehnsüchten zur Mitte der Aufführung bleiben im luftleeren Raum hängen und werden durch die Spielweise der Schauspieler wenig motiviert. Doch was Magelli will, wird deutlich: Erbarmungslos spießt er die Beschränktheit der Figuren und ihres inhalt- und ziellosen Lebens auf. Und wo kein Geist ist, da werden wir zurückgeworfen auf die Instinkte. Auf Sex statt Liebe. Und zwar ohne Perspektive: Beim Sex werden der Hirnforschung zufolge Bindungshormone freigesetzt, aber bei Menschen ohne Hirn werden die Ergebnisse der Hirnforschung wohl nicht greifen…