Die Bremer Stadtmusikanten als Wutbürger
Arm, alt und arbeitslos: In Bremen ist das ein Schicksal mit langer Tradition. Erinnern Sie sich? Das war die Ausgangslage von Esel, Hund, Katz‘ und Hahn, die sich aufmachten nach Bremen, um dort Stadtmusikanten zu werden. Tatsächlich gerierten sie sich erst mal als Hausbesetzer, verjagten angebliche Räuber aus deren Landhaus und lebten dort glücklich und in Frieden – arm, vielleicht mit ein wenig Hausarbeit, und immer älter werdend, so dass sie irgendwann gestorben sind. Der Schriftsteller, Moraltheologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann deutet die gewaltsame Übernahme der Wohnung als revolutionären Akt und das Märchen als sozialistische Parabel: Die Hausbesitzer würden als Räuber entlarvt, denn Eigentum sei Diebstahl; selbst für kleine Hausbesitzer, die im Schweiße ihres Angesichts ein Leben lang für die Tilgung ihres Immobilienkredits schufteten, gelte, auch wenn sie keine Diebe seien, dass man im Verkehrten nichts Richtiges machen könne. Und kein Wirtschaftssystem könne Recht haben, das Menschen festlege durch ihre Leistungsfähigkeit und durch die Effizienz ihrer gesellschaftlichen Aktivitäten.
So was gefällt Volker Lösch natürlich: Der ist schließlich einer der radikalsten Gesellschaftskritiker unter den deutschen Theater-Regisseuren. In seiner Inszenierung am Theater Bremen, die die Situation der Arbeitslosen der Generation Ü50 thematisiert, bezieht er sich ausdrücklich auf Drewermann und hangelt sich in der Collage von Aussagen betroffener Arbeitsloser, von zum Teil recht widersprüchlichen Rezepten linker Philosophen, Schriftsteller und Gesellschaftskritiker und von Aussagen heutiger Politiker am Text von Grimms Stadtmusikanten-Märchen entlang. Das ist eine originelle Idee, und die wird nicht weniger originell, wenn man erfährt, dass ausnahmslos alle in der Aufführung getroffenen Aussagen Originalzitate sind: sei es von dem einen oder anderen Arbeitslosen, sei es von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, sei es von den sechs Schauspielern, die das 42köpfige (!) Laien-Ensemble verstärken.
Wie Lösch so etwas handhabt, ist dem die überregionale Theaterszene beobachtenden Theaterinteressenten bekannt: Ein inszenatorischer Feinmotoriker ist der Regisseur nicht gerade. Laute Laien-Chöre stehen einander gegenüber, hier der Chor der Tiere (eben die arbeitslosen Ü50er) und der Chor der Jungen – also derjenigen, die noch Arbeit haben und mit Nerd-Brillen und schwarzen Anzügen im sauberem Großraumbüro hektisch die Laptops bearbeiten und dabei Vorurteile und radikale Endlösungskonzepte skandieren. Auch die basieren, wie Lösch in der anschließenden Publikumsdiskussion betont, ausschließlich auf Originalzitaten – und sie kommen der Aufforderung zur Euthanasie erschreckend nahe. Aber ist das typisch für die heutige junge, arbeitende Bevölkerung?
Na ja, es sei eben zugespitzt, sagt Lösch. Vielleicht ist es auch Brandstiftung, Aufforderung zu gewaltsamem Klassenkampf. Immerhin greifen die armen alten Arbeitslosen anschließend militant zur Axt und schlagen das Mobiliar der Räuber (sprich: der Arbeit und Vermögen besitzenden Klasse) kurz und klein. Die Schauspieler empfehlen derweil Karl Marx, Tom Hodgkinson, Gilles Deleuze oder David Harvey.
„How to be Idle“ heißt Hodgkinsons Opus Magnus, das den Ausstieg aus der Arbeit und der Sklaverei des kapitalistischen Wirtschaftssystems propagiert. Davon träumen einige Mitglieder von Löschs Ü50-Chor auch. Die Problematik der Altersarbeitslosigkeit ist wohl allen im altersmäßig ungewöhnlich gut durchmischten Publikum bewusst. Von der Altersarmut und der Schwierigkeit der Reintegration älterer Menschen in den Arbeitsprozess wissen wir, die Überforderung durch wachsende Veränderungsgeschwindigkeit, psychische Probleme durch zunehmenden Druck durch Arbeitgeber und marktwirtschaftliche Verhältnisse hat mancher selbst erlebt. Einzelne Akteure – professionelle Schauspieler ebenso wie Laien – schildern Beispiele anhand individueller Biographien. Sie agieren – ebenso wie die Chöre – mit aggressiver Wutbürger-Attitüde; differenzierte Argumente sind selten. Und manche zeigen offen ihre Veränderungsresistenz und erwarten, dass der Staat sie dabei unterstützt, ihr letztes Arbeits-Jahrzehnt ohne Anpassung an Veränderungen zu überstehen. „Ich schreib‘ keine Bewerbungen mehr. Ich habe diese Leistungsfähigkeit nicht mehr, und wenn ich eine Arbeit bekomme, muss ich die ja erst mal kennen lernen“, gibt da eine abwehrend zu Protokoll. – Doch unmittelbar darauf heißt es: „Ich habe es satt, wie ein dummes, unmündiges Lebewesen verwaltet zu werden.“
Volker Lösch ist viel zu intelligent, um nicht zu bemerken, dass solche Widersprüche und dermaßen erkennbare Veränderungsresistenz dem Anliegen seiner Inszenierung schaden können. Würde er abbilden, was Praxis ist, wären diese Widersprüche spannend. Lösch aber will keine Ausgewogenheit, er hat eine Botschaft. Er will Systemkritik üben, und zwar radikal. Er will Eugen Drewermanns und Tom Hodgkinsons Philosophien vermitteln. Er tut dies, wie Lösch das meistens tut: Laut, polemisch, mit plakativem Agitprop. Mit einer radikalen, fast schon extremistischen Form des politischen Theaters. Hat das Wucht und Kraft? Nun, es hat Wut und Hass, und oft erwachsen daraus tatsächlich kraftvolle, mitreißende Szenen. Mit Schleefschem Stampfen statt intellektueller Auseinandersetzung, mit chorischem Gebrüll statt feinsinniger Kunst. Doch die Kunst gibt es auch, gelegentlich jedenfalls: Myroslaw Zydowiczs Büro-Choreographien sowie Johanna Geißlers in Gestik und Sprache äußerst stimmige Uschi-von-der-Leyen-Parodie sind exzellentes Kabarett, und Glenn Goltzs Solo, in dem er das Regietheater durch den Kakao zieht und sämtliche Mittel des modernen Schauspielers zur Erlangung von Aufmerksamkeit der Lächerlichkeit preisgibt, ist eine komödiantische Glanzleistung von hinreißendem Witz.
Solch provokatives und ideologisch aufgeheiztes Theater hat zweifellos seine Berechtigung. Es kratzt uns an, es lässt nicht gleichgültig, es fordert eine Haltung. Der radikal denkende Linke wird sich durch die Aufführung bestätigt fühlen. Ob der gutwillige Kapitalist trotz des Verzichts auf einen intellektuellen Austausch unterschiedlicher Positionen zum Umdenken bereit ist, erscheint zweifelhaft. Auch in einem Staat, dessen Wirtschaftssystem zu einer der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Europa geführt hat, sind sich alle Parteien der besonderen Verantwortung für das schwierige Segment der Altersarbeitslosigkeit bewusst. Und zwar alle – von der Linkspartei bis zur FDP. Nur die Konzepte, mit denen man dem Problem begegnen möchte, unterscheiden sich. Denn das Patentrezept hat noch keiner gefunden.
Ein radikales Konzept auf der Bühne zu vertreten, ist spannend und Aufgabe des Theaters. Dass der Essener Intendant Christian Tombeil sich eine Woche vor der Landtagswahl berufen fühlte, in der Publikumsdiskussion recht unverhohlen eine entsprechende Wahlempfehlung auszusprechen, war ein bisschen neben der Kappe, steht aber in der Tradition einstmals großer Theatermacher der 70er Jahre – Claus Peymann lässt grüßen. Ansonsten gab es verdientermaßen großen Applaus – insbesondere für das mutige und engagierte Laien-Team.