Sind wir Humanisten?
Zehn Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod, hat Peter Weiss an seiner Ästhetik des Widerstands gearbeitet, 1200 Seiten autobiographischer Roman, politisches Pamphlet und tiefgründige Kunstbetrachtung. Tilman Neuffer und der Regisseur Thomas Krupa haben das Monstrum jetzt für die Grillo-Bühne dramatisiert. Heraus gekommen ist ein überraschend leicht gefügtes, weit über dreistündiges Destillat über den politischen, den künstlerischen, den leidenden Menschen, mal schmerzhaft genau beobachtet, mal stilisierend überformt, mal poetisch überhöht. Kompass in diesem gewaltigen Geflecht ist Weiss‘ Sprache, genau im Ausdruck und taufrisch, vieles wie für heute gedacht.
„Wir sind Humanisten!“ Es geht ums Gut-sein, ums richtig-leben in grausamer Zeit – zunächst anhand des berühmten Pergamon-Altars, fast kindlich. Nazi-Berlin 1937, der spanische Bürgerkrieg, das schwedische Exil, Berlin 1942 im Untergrund sind die Schauplätze. Der Selbstbestimmungstrieb des Individuums – „Du musst dich entscheiden, auf welcher Seite du stehst!“ – zerstört Solidarität. Expressionismus und Vernunft, Arbeiter und Künstler, Handeln und Abwarten, Kommunisten, Anarchisten und Sozialdemokraten, Deutsche und Ausländer, gute Russen, böse Russen. Zu viel Denken in Grenzen, zu viel ideologiegesteuertes Fühlen. „Nur durch den Tod finden die Menschen zueinander.“ Die Figuren spüren ihre Gemeinsamkeiten nicht mehr. Sie geben ihre Würde auf, eingeschüchtert von den übermächtigen, unglaublichen Vorgängen um sie herum. Dieser erschreckend reale Prozess ist Kern der Aufführung. In einem besonders bitteren Moment schüttet Herbert Wehner, dem Tom Gerber spannend und witzig Profil gibt, ohne ihn denunziatorisch zu parodieren, sich prustend aus vor Lachen, als er von den KZ-Transporten nach Auschwitz erfährt. Er kann und will es nicht glauben – weil die Information von einem Schweden kommt.
Die Bühne ist ein Käfig, begrenzt von Plastikplanen, strukturiert von neongelben Gitternetzlinien, die über die Begrenzungen hinausragen wie Stacheldraht. Natur und Kultur sind ausgesperrt. Pergamon-Altar, Dinosaurier mit Urwaldgrün, Kinderchor dringen nur durch Projektionen herein wie durch die Glaswände eines Aquariums. Jana Findeklee, Joki Tewes und Andreas Jander sind hierfür verantwortlich wie für die genau charakterisierenden, historisch inspirierten Kostüme.
Der Abend fasziniert durch den nie abreißenden Erzählfluss, gespeist vom Urstrom der Geschichte, der in Gestalt der weiß maskierten Ingrid Domann immer wieder schmerzhaft sichtbar wird.
Es wird sehr gut gespielt an diesem Abend, strukturiert und sinnlich gesprochen, selten exaltiert, stets mit genauer Haltung, auch und gerade im Körper. Stefan Diekmann führt als Ich-Erzähler versammelt und souverän durch den Abend, Bettina Schmidt begeistert durch eine merkwürdig transparente Leichtigkeit des Leidens. Dazu stechen zwei kernige, sensible Männerstimmen heraus: Eric van der Zwaag als Vater des Erzählers mit elegant sublimierter Aggression und Matthias Breitenbach als zunehmend desillusionierter, von Beginn an sterbender Arzt, der als eine Art Don Quixote eingeführt wird und diese Anmutung sacht durch den Abend begleitet.
Natürlich ist es lang, gibt es arg viel Text, ist das Zuhören, das in Zusammenhänge stellen müssen, fordernd. Natürlich erschöpfen sich die Mittel irgendwann, zumindest teilweise, wird Musik, werden Projektionen mal illustrativ und nicht dramaturgisch produktiv eingesetzt, plätschert die Handlung mal, statt zu fließen. Dennoch hat sich das Wagnis gelohnt. Viele Zuschauer werden versuchen, Peter Weiss zu lesen, einige einmal öfter die Hand zur Verständigung ausstrecken oder zumindest das Essener Theater weiterempfehlen.
„Wir sind Humanisten!“ Kern von Peter Weiss‘ Widerstand, Generator für das Streben nach Freiheit ist - die unverbrüchliche Hoffnung.