Übrigens …

Der Verbrecher im Köln, Theater Der Keller

Gesammelter Zunder, juristisch betrachtet

Packend. Vor allem Juristen werden sofort in den Bann geschlagen von dieser Aufführung, aber auch ganz normale Zuschauer. Dabei muss man nicht ein Kenner oder gar Verehrer von Friedrich Schiller sein – vermutlich muss man nicht einmal eine besondere Affinität zum Theater haben. Aber wenn er das Theater Der Keller in Köln nach 70 Minuten verlässt, dann staunt der Laie, welche Aktualität Schiller heute noch hat. Und der Fachmann wundert sich...

Christian Wolf, von Schicksal und Natur nicht begünstigt, hilft der Kasse, der Liebe und dem Selbstwertgefühl auf die Sprünge, indem er ein wenig in den Waldungen des Landesherrn wildert. Das Resultat ist vor 220 Jahren dasselbe wie im Jahre 2012: erst gibts 'ne Geldbuße, im Wiederholungsfalle Knast. Der allerdings übertraf im 18. Jahrhundert die JVA Siegburg an Grausamkeit der Insassen und die JVA Bochum an Ausbruchssicherheit: „Ich betrat die Festung als ein Verirrter und verließ sie als Lotterbube“, fasst Wolf die persönlichkeitsbildende Wirkung der dreijährigen Schicksalsgemeinschaft mit Mördern, Dieben und Vagabunden zusammen. Und wird erst zum Mörder, dann zum Räuberhauptmann. Nicht zu einem so edlen wie Schillers Karl Moor, sondern zu einem schmutzigen, zum „Schrecken des Landvolks“. Seine Hooligan-Truppe aber ist voller Neid und Missgunst und Intrigen, und die Geschäfte der Räuberbande laufen ebenfalls alles andere als zufriedenstellend. Wolf wendet sich von ihr ab und bereut: „Ich hasse das Laster und sehne mich feurig nach Rechtschaffenheit und Tugend.“ Von Reue will aber keiner mehr was wissen, und so ist Schluss mit Moor … äh … mit Wolf: Der Henker hat die schärferen Argumente.

Dass die Aufführung packt, liegt zum einen an der intensiven Performance von Alexander Wipprecht in der Titelrolle. Der steht schon beim Einlass des Publikums in dem einfachen weißen Kubus des Bühnenbildes und lehnt den Kopf gegen die Bühnenwand. Schlägt ihn immer wieder gegen die Wand. Verzweifelt. Aber auch ratlos. „Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Beklagten“, moniert Schiller. Wolf nämlich ist vor allem ein Leidender, eine Art Vorläufer des nur 18 Jahre später erschienenen Michael Kohlhaas. Bagatell-Delikten folgt die Strafe, der Strafe die Verachtung durch die Gesellschaft und der (selbst verschuldete) Verlust der Geliebten, dann entsteht Wut, der Verlust des Schamgefühls und Wolf gerät in einen Teufelskreis der Gewalt. Aber stets bleibt ein Rest an Moral, an Sehnsucht nach einem Leben in Anstand und Tugend. Doch Wolf ist auch ein Woyzeck – er weiß nicht umzugehen mit den Verletzungen, die ihm die Umwelt zufügt und gerät mehr und mehr mit dem Gesetz in Konflikt.

Überzeugend leidet er unter den Typen, mit denen gemeinsam er in der Festung einsitzt, unter der Verachtung der Kinder. Er ist ein Verzweifelter, Trauriger, Gebrochener, auch einer, der sich schämt. Bis er die Scham verlernt: Weil er seine Ehre und Würde verloren hat. Wipprechts leise, tragisch grundierte Performance wird nun lauter, wilder – aber sie bleibt verzweifelt und ratlos. An den Wänden seiner weißen Zelle versucht er seinen Schmerz zu visualisieren; malt Gesichter, Augen, Fragezeichen – und den Namen seiner geliebten Johanna: durchgestrichen. Das alles berührt; Wipprecht spricht mit hoher Suggestivkraft, gibt in seinem Monolog dem Bettler, dem Räuber, dem Knastbruder jeweils eigene Stimmen und der Aufführung einen überzeugenden Rhythmus aus Stille und Aufbegehren, aus Emotion und Nachdenklichkeit. Da beherrscht ein Mann mit großem Charisma ohne jegliche Requisiten die kleine Bühne!

Dass die Aufführung packt, liegt aber auch in ihrer plakativen Verankerung in der Gegenwart. Wie oft haben wir in den letzten Jahren - Anlass war meist die wieder einmal anstehende Entscheidung über die Begnadigung eines RAF-Terroristen – über den Sinn von Strafe diskutiert: Dient sie der Rache, gilt sie vorwiegend dem Schutz von Leib, Leben und Eigentum der gesetzestreuen Mehrheit, dient sie der Resozialisierung? – Im Titel von Schillers Erzählung klingt noch ein anderes hochaktuelles Thema an: Verbrecher aus verlorener Ehre – Ehrenmorde erschüttern unser Land immer wieder. Empörend. Unverzeihlich. Aber wie sieht es innen drin in den Menschen aus, die aufgrund fremder kultureller Herkunft und anderer ethisch-moralischer Wertvorstellungen zu solchen Mitteln greifen? „Hätten meine Eitelkeit und mein Stolz meine Erniedrigung erlebt, so hätte ich mich selber entleiben müssen“, sagt Christian Wolf einmal…

Schillers Text kann auch als eine exemplarische Abhandlung über juristische und rechtsphilosophische Themen unserer Tage gelesen werden. Regisseur Bernd Plöger und seine Dramaturgin Felizitas Kleine haben dem Text seine Aktualität abgelauscht, ohne dabei allzu viel in die Sprache und den Handlungsablauf Schillers einzugreifen. Im Prolog fanden sie eine exakte Handlungsanweisung für ihre Arbeit: Die Story als Thriller aus der Perspektive einer der beiden Parteien wiederzugeben, beleidige die republikanische Freiheit des Publikums. Objektivität sei das Ziel: „Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen (Anm. d. Verf.: den Verbrecher) umgaben, bis der gesammelte Zunder in seinem Inwendigen Feuer fing?“

Bernd Plöger hat eben das getan – und bei aller Sympathie für unseren Halunken die gesamte deutsche Gerichtsbarkeit aufgeboten, um den Fall Christian Wolf von allen Seiten juristisch zu beleuchten: Strafverteidiger, einen Strafrechtsprofessor von der Polizeiakademie Niedersachsen, einen Sozialpsychologen und eine kriminalpsychologische Gutachterin, eine Gefängnisseelsorgerin, einen Rechtsphilosophen, einen Pfarrer und andere mehr. Immer wieder unterbrechen Statements von diesen Experten des Alltags Alexander Wipprechts Monolog: Wieso ist es Ehre, „wenn ich ein Taschenmesser in der Hand habe …, um damit zu stechen“, fragt sich der Düsseldorfer Strafverteidiger Rüdiger Spormann. Ist, wie die Gutachterin und Kriminalpsychologin Sabine Nowara meint, Christian Wolf ein ganz normaler Verbrecher, bei dem irgendwann die Relationen anfangen, sich zu verschieben, oder ist er psychisch krank? Detlef Fetchenhauer von der Universität Köln weist darauf hin, dass Strafe nicht Selbstzweck, sondern die Chance einer Resozialisierung darstellen solle, und die Gefängnisseelsorgerin Eva Schaaf sinniert über die Utopie einer Welt ohne Strafe. Letztlich mündet die Diskussion in der rechtsphilosophischen Frage, inwieweit ein jeder von uns bei Zusammentreffen unglücklicher Umstände zum Verbrecher werden könne – die Übergänge zwischen Moral und Amoral seien doch fließend.

Da sitzen wir dann kerzengerade in den Theatersesseln, die Ohren gespitzt und alle Sensoren ausgefahren, und realisieren verblüfft, dass ein 220 Jahre alter Text gerade hochaktuelle Fragen unserer Zeit verhandelt. Packend. Nicht nur für Juristen…