Immer noch Sturm im Mülheim, Stadthalle

Was für eine Art von Zeit gilt hier?

Peter Handkes szenische Erzählung beginnt mit der fragenden Feststellung des Ich-Erzählers: „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe oder wo…was ist da zu sehen?“ Dies lässt im Zuschauer den Gedanken an König Lear aufblitzen, woran ebenfalls der Titel denken lässt. Immer noch Sturm ist Handkes wohl persönlichster Text, der den Freiheitskampf der Kärntner Slowenen gegen die deutschen Besatzer, den Mut der Partisanen in den Wäldern, die Verbitterung ob so mancher gebrochener Versprechen in der Politik skizziert. Auch nach dem Sieg gegen das Nazi-Regime gibt es wiederum Krieg gegen die Slowenen, da Teile von deren Heimatland nun Österreich zugeschlagen werden. Die Slowenen werden gezwungen, ihr heiligstes Gut, ihre Sprache aufzugeben – das, wofür sie so hart gekämpft und bitter gelitten haben. So stellt Onkel Gregor im Stück entmutigt fest: „Es herrscht …immer noch Sturm“.

Handke bezieht Shakespeares Familientragödie Lear nicht ohne Hintergedanken ein. Erzählt doch Immer noch Sturm eine imaginäre, eine konstruierte Familiengeschichte, die er selbst ein „historisches Traumspiel“ nennt. Handkes Vorfahren sind Kärntner Slowenen und ihre Heimat ist das Jaunfeld, auf dem sie der Erzähler trifft und wo die Geschichte dieser Familie in Episoden - von 1936 bis in die neunziger Jahre – berichtet, gesungen, vorgespielt wird.

Handke arbeitet in diesem Werk zum einen in einer Art Familienaufstellung seine eigene Herkunft als uneheliches Kind seiner slowenischen Mutter und eines deutschen Wehrmachtsoldaten auf. Er fügt aber auch den Kampf zweier Familienmitglieder (Tante Ursula und Onkel Gregor) in den Reihen der Partisanen mit in den Reigen der vermeintlichen Erinnerungen ein, obwohl dies von den Fakten her nicht der Fall war. Also eher eine Wunsch- oder Traumvorstellung des Dichters.

Wir erleben mit dem Protagonisten (absolut großartig: Jens Harzer als suchender, liebender, zweifelnder, nachdenklicher Sohn), wie er sich an die Geschichte seiner Familie erinnert, an ihren Kampf um Sprache und Identität, an die brutalen Kriegserfahrungen, an die „gelebte Zeit“ – weit mehr als eine chronologische Auflistung von historischen Ereignissen. Viel mehr eine geträumte Abfolge von Szenen, wie es hätte sein können.

Dimiter Gotscheff hat Handkes Werk in einer Co-Produktion mit dem Hamburger Thalia Theater für die Salzburger Festspiele inszeniert. Für ihn war eine „einfache Übersetzung“ der Geschichte auf der Bühne wichtig. So sehen wir ein großes Rund, auf das es fast die ganze Zeit – bis auf den Beginn und auf den Schlussmonolog des Erzählers – permanent grüne Papierschnipsel regnet, die eine seltsam irreale Atmosphäre schaffen, die Handkes Konglomerat aus Reflektionen, Erinnerungsfetzen und Fakten treffend illustriert. Die Schauspieler, die die Familienmitglieder spielen, treten einzeln oder häufig auch in einer Art Gruppenarrangement auf. Letzteres erinnert an alte Familienfotos. Der Erzähler kommentiert, ergänzt oder nimmt an den Gesprächen teil. Die Monologe einzelner Familienmitglieder erwachsen aus dem Miteinander und zeichnen Nahaufnahmen von Einzelschicksalen, so des Großvaters, der Mutter oder von Onkeln und Tanten. Immer wieder betont wird, wie wichtig Heimat, wie wichtig Sprache ist. Und: was heißt leben, was bedeutet Geschichte?

Die Musik unterstreicht Stimmungen – es wird häufig gesungen, auch getanzt, was manchmal einen Hauch von Folklore vermittelt.

Es ist ein – nicht nur für das hervorragende Ensemble (Oda Thormeyer, Tilo Werner, Hans Löw, Bibiana Beglau, Heiko Raulin, Gabriela Maria Schmeide, Matthias Leja) – ein anstrengender Abend, der aber dank Handkes poetischer Sprache emotional intensive Einblicke in die Familienbeziehungen, in den politischen Kampf eines Volkes um Eigenständigkeit und in das Ringen des Individuums um seinen Platz vermittelt.