Übrigens …

Die Opferung des Gorge Mastromas im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Güte oder Feigheit?

Gorge Mastromas ist ein höchst durchschnittlicher Mensch. Gezeugt in einem Routine-Akt, der zwar befriedigend, aber nicht aufregend war. Als Schüler und im Sport irgendwo „im oberen Drittel der unteren Hälfte“, dann ein schüchterner, blasser Vorstands-Assistent des mediokren M, des höchst durchschnittlichen Inhabers eines Unternehmens, das kurz vor der Insolvenz steht. Bis jetzt hat Gorge Mastromas ein paarmal vor Entscheidungen gestanden, die ihn durchaus rockten: dem unbesiegbaren Idol seiner ersten Schuljahre beizustehen oder sich auf die Seite der Sieger zu schlagen, als Paul vom Platzhirschen zum Loser geworden ist. Das begehrte Rasseweib zu verführen am Tage, als er erstmals mit der unscheinbaren, duft- und honiglosen Sarah geschlafen hat. Die halbwegs glückliche Beziehung zu Tanja zu opfern zugunsten eines versehentlich von ihm mit einer anderen Frau gezeugten Kindes. Gorge hat sich stets für die moralische Lösung entschieden. „Sein Schicksal war besiegelt“, heißt es gleich beim ersten Mal: „Er war ein Niemand, ein Loser.“ – Güte oder Feigheit?

Dann kommt A. Die Alpha-Woman – Katja Uffelmann spielt sie elegant und sicher, mit weicher, femininer Stimme, aber kalt und berechnend. Kein Hedge-Fonds-Manager kann rasanter die Verflechtung der Interessen gegen das Unternehmen steuern, kein Investment-Banker raffinierter den Inhaber ausspielen als A dies tut. Sie bringt Gorge die drei goldenen Regeln für den Erfolg im Leben bei: „Wenn du etwas willst – nimm es dir.“„Um dir alles zu nehmen, … lüge aus tiefstem Herzen.“„Denke nie an das Ergebnis, rechne immer damit, aufzufliegen … Und bereue nichts, niemals NIE.“ Sie macht Gorge Mastromas ein Angebot: Reichtum und Macht gegen Verrat an seinem Chef. Güte oder Feigheit? – Auf Lüge und Skrupellosigkeit wird das Leben beruhen, für das Gorge Mastromas sich nun entscheidet. „Er war neu geschaffen. Neu erfunden.“   

Die Lüge und Skrupellosigkeit des Gorge Mastromas macht vor der Liebe keinen Halt. Er beherzigt die goldenen Regeln: Wenn er etwas will, nimmt er es sich. Und lügt aus tiefstem Herzen. Für die Macht – und zur Eroberung der Frau, die er liebt. Mit der Liebe schleichen sich erste Irrationalitäten in Gorges Verhalten ein. Doch Gorge ist erfolgreich – das obere Drittel der unteren Hälfte vermag er aus der Perspektive der absoluten Nummer 1 nicht mehr zu sehen. Widerlich, zynisch, immer skrupelloser wird sein Verhalten – auch in der Beziehung zu seiner großen Liebe Louisa. Er wird der Prototyp des gierigen Egoisten, korrigiert seine Vergangenheit. Lloyd Blankfein, CEO von Goldman Sachs, hat einst behauptet, er verrichte Gottes Werk - analog dazu sagt Gorge Mastromas: „Ich mache diese Welt.“ Auf Lüge und Skrupellosigkeit folgt Hybris.

Dennis Kelly und sein Uraufführungs-Regisseur Christoph Mehler erzählen diese ein wenig übersteigerte Geschichte als Parabel auf unsere heutige gierige Welt. Sie schaffen einerseits eine Laborsituation, zeigen uns andererseits aber überdeutlich, dass wir selbst gemeint sind. Menschen wie wir, die sich vielleicht bei entsprechender Gelegenheit verhalten würden wie Gorge Mastromas, Menschen wie wir, die solch hemmungslos neoliberale Verhaltensweisen akzeptieren. Mehr als eine halbe Stunde lang steht Torben Kessler am Anfang als Erzähler vor einer Spiegelwand und erzählt uns den Lebenslauf des Durchschnitts-George – bis dass der am Scheideweg zwischen Verrat und Loyalität zum Pleite-Chef ankommt. Im Spiegel sehen wir uns selbst – und Gorge, der durch einen Trick der Lichtregie mitten unter uns sitzt. Immer wieder werden die folgenden Spielszenen, die mikroportverstärkt hinter der Spiegelwand stattfinden, von Torben Kessler an der Rampe kommentiert. Er spricht das Publikum direkt an, spielt mit seinen Erwartungen, provoziert es in seinen ethisch-moralischen Einstellungen. Wie weit sind wir bereit, dem anfangs so sympathischen Gorge zu folgen bei seiner Metamorphose zum turbokapitalistischen Monster?

Kessler spielt die Rolle des Erzählers und Moderators mit Rasanz und Spannung, mit ein wenig übertriebener Gestik hin- und herspringend. Scheinbar unparteiisch, de facto aber selbst nicht ohne Zynismus. Ihm sowie dem die Entwicklung seiner Figur vom biederen Buchhalter ohne Rückgrat zum skrupellosen Herrscher perfekt nachzeichnenden Isaak Dentler als Gorge ist es vor allem zu verdanken, dass wir der mit immer neuen Wendungen überraschenden Geschichte mehr als zwei Stunden lang gebannt folgen. Und er sorgt am Ende für den Knalleffekt in der Geschichte:

Denn der Mann, der diese Welt macht, der nach seinem Selbstverständnis die Zeit anhalten und das Unvermeidliche vermeiden kann: Gorge Mastromas vergisst irgendwann die Komplexität der dritten goldenen Regel. Dass er auffliegen könnte, hält er für unmöglich. Ein Fehler. Noch einmal geht er über Leichen. Dann greift der Moderator Torben Kessler höchst persönlich ins Spielgeschehen ein. Er entpuppt sich als Pete – der Sohn, von dem Gorge niemals wusste. Und als Aktivist einer radikalen politischen Gruppe, die den alten, längst vereinsamt in einem einzigen Raum seiner 280-Zimmer-Residenz hausenden Gorge ermorden will. Gorge, mit der brüchigen Stimme des alten Mannes, macht Pete ein Angebot. Mit den gleichen Worten, die viele Jahre zuvor die Heuschrecken-Alphawoman Gorge gegenüber benutzt hatte.

Pete zieht sich zurück. Ist es Güte oder Feigheit, dass er Gorge nicht erschießt? – Gorge, so findet Pete, ist die Kugel nicht wert. „Du bist ein Opfer. Ein Toter“, sagt Pete. Gorge weiß das. Er bleibt vereinsamt zurück. Noch hat sich Pete für die moralische Lösung entschieden. Wenn er bei diesem Weg bleibt, dann hätte Dennis Kelly ein zutiefst moralisches Stück geschrieben. Auf jeden Fall hat er in seinem Labor mit großer psychologischer Exaktheit gearbeitet. Und Christoph Mehler und sein Team haben uns in ihrer spannungsreichen Inszenierung einen Spiegel vorgehalten. Großer Jubel.