Übrigens …

Klaus und Erika im Schauspielhaus Düsseldorf

Nicht barrierefrei

Staffan Valdemar Holm hat mit Beginn seiner Intendanz am Düsseldorfer Schauspielhaus die Trennung zwischen Jungem Schauspielhaus und „Erwachsenentheater“ aufgehoben. Das Ensemble spielt im Schauspielhaus ebenso wie im Jugendtheater, und als Regisseure werden für das Junge Schauspielhaus die Namen verpflichtet, die wir auch aus dem Programm für den Silbersee im Großen Haus kennen. Die Philosophie ist wegweisend: Das junge Publikum wird ernst genommen; es erlebt erstklassige Schauspielkunst, und die Schauspieler sind immer wieder angehalten, ihre Anliegen auch an ein weniger theatererfahrenes Publikum zu vermitteln. Das Konzept muss sich noch einspielen: Herausragende Ergebnisse wie bei Grillparzers Medea wechseln mit Überforderungen des jugendlichen Publikums ab. Aber der Weg erscheint sinnvoll: Die jungen Menschen werden mit großen Stoffen konfrontiert und die großen Zuschauer ins Junge Haus gelockt.

Zum Spielzeitende inszeniert der Chef selbst im Jugendtheater. Holm macht uns mit einem Kinder- und Jugendstück-Autor aus seiner schwedischen Heimat bekannt. Lucas Svensson hat sich der Familie eines der Alphamännchen unter den deutschen Literaten angenommen: Klaus und Erika sind die beiden ältesten Kinder von Thomas Mann, mit dem nahezu jede(r) deutsche Jugendliche sich im Laufe der schulischen Karriere befassen muss. Eigentlich eine geniale Stückauswahl für ein deutsches Jugendtheater. Die richtige Altersgruppe zu definieren, erscheint jedoch schwierig: Das Stück changiert zwischen kindgerechten Gags und surrealistischen Auftritten, zwischen plakativem Familienklatsch und politischen Spotlights auf die Gesellschaft im Ersten Weltkrieg. Das Düsseldorfer Schauspielhaus annonciert die Aufführung für Menschen „ab elf Jahren“.

Der Beginn der Aufführung ist sinnfällig und überzeugend: Bente Lykke Møller hat über die gesamte Bühnenbreite eine hermetische braune Arbeitszimmerwand gebaut. Hinter einer einschüchternden Flügeltür verschanzt sich der „Zauberkönig“, wie die Familie den großen Schriftsteller nennt. Dem leiht der große Udo Samel seine Stimme, aber nicht seine Präsenz: Thomas Mann bleibt unsichtbar; ein Bild, das später über der Tür aufgehängt werden wird, zeigt den Dichter von hinten: Vater ist unerreichbar hinter einer Barriere, allem Menschlichen abgewandt hält er auf Distanz. Zum Dichten und Denken braucht er Totenstille, die unerbittlich eingefordert wird. Türenschlagen wird in der Inszenierung zu Donnergrollen, die „Nadel, die auf den Boden fällt, klingt wie ein Kanonendonner“. Demütigend ist das Urteil des Vaters über die Geschichten, die Klaus, dem unerreichbaren Vorbild nacheifernd, schreibt – von einer hübschen jungen Frau eingereicht, wird er die gleiche Geschichte später „interessant“ finden. So verzweifelte wie ungeschickte Bemühungen von Klaus um Vaters Liebe oder Respekt bleiben vergeblich – dass der zurückgewiesene Sohn an sekundärer Enuresis (unbewusstem Einnässen), aber auch am Gegenteil (Problemen beim Wasserlassen) leidet, ist psychologisch stringent, führt aber, ausgiebig auf der Bühne demonstriert, bei Elfjährigen zu Johlen und Feixen und Ekel-Rufen und nicht zu einer empathischen Reaktion…

Die präsente, vielschichtige Charakter-Facetten zeigende Elena Schmidt geht als Erika selbstbewusster mit der distanzierten, ja geradezu kinderfeindlichen Haltung des Vaters um. Sie ist abenteuerlustiger, temperamentvoller, robuster als Marian Kindermanns Klaus – der Literaturfreund weiß: Sie war Vaters Liebling. Wenn Erika von der Welt draußen erzählt, dringen die Bilder und Geräusche der Stadt ins Theater ein: der Straßenbahnschaffner, Trommler und Kriegstreiber, Pferdegetrappel. Eine Regie-Idee, die Poesie in die Aufführung bringt, aber leider ebenso wenig weiterverfolgt wird wie der Ansatz zur Überhöhung der Geräusche im Vorzimmer des Haustyrannen, der gegen Ende in Form von dräuender Wagner-Musik noch einmal variiert wird.

Auch Erika leidet: unter der Ichbezogenheit der Mutter, die sich ebenso wenig um ihre Kinder kümmert wie Vater. Erikas spätere Theater- und Kabarett-Karriere deutet sich an: auf tragische Weise. Sie weint ob der Nichtbeachtung durch ihre Mutter – und verkauft dieses Weinen als „Theaterspielen“ – eine erschütternde Szene; bald weiß Erika nicht mehr, wann ihre Emotionen echt sind und wann „Theater“. Die Chansons und Lieder, die Erika später singen wird, gehören zu den wenigen emotionalen Höhepunkten der Aufführung – die jüngeren Kinder im Publikum aber schätzen sie nicht und zerquatschen sie; ein etwas älteres Mädchen dagegen wird in der Publikumsdiskussion die Wichtigkeit dieser Lieder betonen: „Da habe ich gemerkt, dass Klaus und Erika traurig waren.“

Schauspielerisch überzeugt neben Elena Schmidt vor allem Anna Kubin: als Mama Mielein (Thomas Manns Gattin Katia) ist sie eine schöne Schwindsüchtige, eine Schneekönigin, die den Kindern nicht gut tut – und als Hungermutti eine auch die jüngeren Kinder im Publikum bezaubernde, geheimnisvolle Armen-Hexe. Die Salomé dagegen, eine aufstrebende Schriftstellerin, gerät Kubin nur zur lächerlichen Karikatur; auch der Verleger Fischer-Reclam (immerhin witzig in reclamgelbem Anzug mit Dreiviertel-Hose) und das deftige bayerische Dienstmädchen Effi sind reichlich plakativ und schablonenhaft gezeichnet. Allzu häufig lässt Holm seine Schauspieler der anvisierten Zielgruppe der Elfjährigen entsprechend slapstickhaft agieren, während das manchmal überambitioniert erscheinende Stück große Themen anreißt.  

Da werden das Leid und die emotionale Vereinsamung der Kinder beschrieben, die aus dem Vorbild des Vaters erwachsende Arroganz der verwöhnten Blagen ebenso wie die sich in nachahmender Schriftstellerei und Theaterspiel äußernde Kreativität. „Worte Worte Worte“ heißt es immer wieder: wenn es um Liebe geht oder um den Tod: im Hause Mann werden auch die großen Gefühle auf Worte reduziert, und Klaus redet sich ein, den Vater wegen seines souveränen Umgangs mit den Worten zu lieben. Worte werden, wie wir wissen, auch Klaus und Erika erfolgreich, aber nicht glücklich machen. Und da geht es um den Krieg, um den unkritischen Umgang damit und um seine fatalen Konsequenzen, die sich in Invalidität und Hunger äußern – doch diese Szenen bleiben in Holms Inszenierung seltsam unverbunden mit dem Rest der Geschichte.

Für die Kleineren ist das so, wie es nebeneinander steht, nicht verständlich. Und die Regie – unentschieden, welche Zielgruppe sie ansprechen soll - findet keinen stringenten Weg, ihnen die komplexen Sachverhalte zu übersetzen. Sie versucht sich es mal mit Symbolik, mal im plakativen Haudrauf-Stil; mal mit Poesie und Tragik, mal mit flacher Comedy. So ist denn am Ende keiner richtig glücklich: Die Kleinen haben nichts verstanden, und die Großen sind unterfordert.