Übrigens …

Mutter Furie im Studio-Bühne Essen

Mit Messer und Apfel

„Lützen 1632. Frankreich 1870. Stalingrad 1943. Deutschland 1945. Algerien 1961. Irak 1990. Sarajevo 1994. Kenia 2012… - Es ist Krieg. Immer. Irgendwo … Irgendwann.“ So beginnt der Text auf dem Werbe-Flyer der Studio-Bühne Essen für die Produktion. Guy de Maupassants Novelle spielt im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, aber die Bearbeitung der Travelling Light Theatre Company aus Bristol, die der Essener Aufführung zugrunde liegt, geht zu Recht von einer Allgemeingültigkeit des Geschehens aus: Ein Dorf wird im Krieg besetzt, und die einzelnen Familien bekommen feindliche Soldaten zugeteilt, die bei ihnen wohnen werden. In diesem Fall wird eine Mutter, deren Sohn selbst eingezogen wurde, einen jungen Soldaten beherbergen. Die beiden sprechen unterschiedliche Sprachen und verstehen einander nicht, sind aber gezwungen, miteinander auszukommen. Eine brisante, psychologisch interessante Konstellation.

Wie sie endet, erleben wir an der Studio-Bühne in einer Art Prolog gleich zu Beginn der knapp neunzigminütigen Aufführung. Eindringlich schildert Kerstin Plewa-Brodam als „Mutter“ die Durchlöcherung ihres Körpers, die einzelnen Körperteile und Organe, die von Kugeln getroffen werden. „There’s nothing left to breathe“, stöhnt andererseits Stephan Rumphorsts „Soldat“: „Why did you kill me?“ – Der Krieg wird also zwei weitere Tote hinterlassen haben. Warum und wie es dazu kommt, wird spannend zu beobachten sein.

Die Aufführung wird von der neuseeländischen Theaterwissenschaftlerin, Dozentin und Regisseurin Bronwyn Tweddle inszeniert, die derzeit eine Art Sabbatical in Deutschland absolviert. Tweddles Theater, so hatte Stephan Rumphorst bereits im Vorfeld der Premiere geäußert, wirke vorrangig durch Gesten und Bewegungen; dies stehe durchaus im Widerspruch zu seiner bisherigen eigenen Spielweise. Nun: Es funktioniert hervorragend.

Reines Körpertheater, ein choreographisch dargestellter Kampf zur Trommelmusik von Heiko Salmon, der die einzelnen Szenen mit Gitarre und Akkordeon begleitet und gliedert, beschreibt die erste Konfrontation der beiden Protagonisten, als der Soldat erstmals das Haus der Mutter betritt. Kurze verbale Szenen stehen langen stummen Passagen gegenüber; eine reduzierte Sprache und langsame Bewegungen verstärken die Intensität der Inszenierung. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Mutter und Soldat wird nahezu ausschließlich über Gesten dargestellt: Automatisch wird der Zuschauer dadurch zu großer Empathie mit den Figuren und zu genauer Beobachtung gezwungen. Ganze Tagesabläufe werden ausschließlich pantomimisch geschildert – da wirkt es dann umso berührender, wenn nach langem, langem Schweigen die Mutter mit einfachen Worten zu erzählen beginnt: „Sie brachten ihn herein. Meinen Mann. Er war tot.“ Nuancen nehmen wir wahr: die tiefe innere Verunsicherung des Soldaten, der sich wider besseres Wissen einzureden versucht, dass es richtig ist zu töten: „for my country“; das Lauernde in den Blicken der Mutter, die den Soldaten kaum aus den Augen lässt aus Angst, etwas falsch zu machen. Wir spüren, da sind zwei verunsicherte, gutwillige Menschen, die voller Misstrauen gegeneinander sind und ihr Verhältnis nicht klären können, denn sie verstehen einander nicht. In Tweddles Inszenierung wird diese Sprachdifferenz sinnfällig deutlich gemacht, denn Rumphorst spricht nur englisch und Plewa-Brodam deutsch – so haben denn doch nicht nur Gestik und Mimik, sondern auch die Sprache exemplarische, symbolische Bedeutung. 

Spannung entsteht aus winzigen Momenten, durch das Auftauchen kleiner Requisiten: Wird die Mutter den Schnaps mit dem Soldaten teilen, wird der Soldat ihr von dem mitgebrachten Apfel abgeben? Ein Messer zum Möhrenschneiden kann auch zur Mordwaffe werden. Es ist ein etwas größeres Küchenmesser – vor unserem geistigen Auge wirkt es überlebensgroß, wie auch der Apfel: Messer und Apfel evozieren Angst und Hungergefühle. Langsam, ganz langsam wächst Vertrauen, später Vertrautheit zwischen den Personen, ungeheuer sensibel wird die Entwicklung der Charaktere, die im Schneckentempo voranschreitende Entspannung der Situation dargestellt. Nach 45 Minuten erscheint erstmals ein Lächeln auf dem Gesicht des Soldaten, und es gibt eine Annäherung durch ein gemeinsames Spiel – doch das Messer bleibt zwischen Mutter und Soldat. Der Soldat berichtet von einem traumatischen Erlebnis. Und das Spiel, wir wissen es ja aus der Eingangsszene, wird irgendwann in Ernst ausarten. Noch wird die Beziehung zwischen Mutter und Soldat wachsen, zu Sympathie werden, sogar Spott aushalten. Im Publikum können wir gar nicht glauben, dass das, was wir zu Beginn gesehen haben, das Ende sein wird.

Von all dem übrigens, von dem Messer und dem Apfel, von den Ängsten und Verunsicherungen bei Mutter Furie und dem Soldaten, von den sensibel erzählten psychologischen Entwicklungen – von all dem steht nichts in Maupassants diesbezüglich eher lakonisch erzählter Geschichte. Manches steht in der vom Travelling Light Theatre für die Uraufführung im Jahre 2006 erarbeiteten Fassung. Aber ganz vieles von dem, was uns in dieser kreativen, von der ersten Minute an hochspannenden Aufführung fasziniert und berührt, ist der Regie von Bronwyn Tweddle und den herausragenden Schauspielern zu verdanken. Das kleine Theater in Essen-Kray hat ein echtes Highlight im Programm.