Übrigens …

Das fliegende Kind im Mülheim, Stadthalle

Analyse eines tragischen Unfalls

Roland Schimmelpfennigs Stück Das fliegende Kind spielt im düsteren Monat November in einer Großstadt am St.Martins-Tag, genauer gesagt: in einer Kirche während des Gottesdienstes und um sie herum. Danach erleben wir den Lampionumzug der Kinder und ihrer Eltern mit. Dabei ist auch der Junge, der so stolz auf das Matchboxauto in seiner Tasche ist, auf diesen schwarzen Mercedes GL, den er erst kurz zuvor gefunden hat. Seine Eltern denken nicht nur an das Familienglück. Die Mutter hat eine Affäre mit dem Vater eines anderen Kindes, mit dem sie auch jetzt immer wieder kurze intime Momente teilt. Der Vater des Jungen träumt von der attraktiven brasilianischen Biologin, zu deren Vortrag über den Regenwald er eilen will, in der Hoffnung auf ein Abenteuer danach. Seinen neuen Wagen – eben jenes Modell in groß, das sein Sohn so beglückt als Spielzeugauto fand – hat er gerade erst bekommen. Die Technik ist ihm noch fremd, er schaltet kein Licht ein. Und als seine Frau ihn über Handy anruft (sie will am Abend den Geliebten treffen und ihr Mann soll auf den Jungen und die kleine Schwester aufpassen), ist er einen fatalen Augenblick abgelenkt. Sein Sohn hatte kurz zuvor bestürzt den Verlust des Matchboxautos festgestellt und war zurück auf die Straße gelaufen. So kommt es zu dem tragischen Unfall, bei dem der Vater sein eigenes Kind überfährt und es noch nicht einmal merkt.

Schimmelpfennig hat bei der Uraufführung selbst Regie geführt. Wie schon in anderen seiner Stücke sind Szenenbeschreibungen versetzt mit Dialogen. Es gibt keine festen Rollenzuweisungen. Drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler verschiedenen Alters („Frau/Mann um die Vierzig/Fünfzig/Sechzig“) sprechen den Text, wobei manche Sätze drei Mal wiederholt werden. Es gibt keine Individuen und keine Helden in diesem Jedermann-Stück, wie es Schimmelpfennig nennt. Das Drama des Kindstodes wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet – eine Analyse, wie es zu so einer Tragödie in unserem Leben kommen kann, aber auch eine Demonstration unserer Machtlosigkeit. Dadurch, dass mehrere Personen abwechselnd bestimmte Rollen (Vater, Mutter, Bauarbeiter, Lehrerinnen) übernehmen, will Schimmelpfennig das entsetzliche Unglück vermitteln, ohne in Betroffenheitstheater zu verfallen.

Zu dem Puzzle von Eindrücken gehören auch die Szenen mit den drei Bauarbeitern, die fünfzehn Meter unter der Erde einen Tunnel graben und sich über die CERN-Röhre in der Schweiz unterhalten und das „Leben oben“ belauschen. Der Glöckner betrachtet das Geschehen aus der Vogelperspektive und erlebt so Märchenhaftes wie den Leguan auf der Brüstung oder den – gerade überfahrenen – Jungen, der zu ihm hinauffliegt.

Der Autor hat eine Vorliebe für Anspielungen auf Mythen und Fabeln. Im Goldenen Drachen war es die Fabel von der Ameise und der Grille. Im Fliegenden Kind wird immer wieder der schwarze Wagen beschworen, der durch die Nacht fährt und unsere Kinder holt.

Johannes Schütz hat der Thematik entsprechend einen in Grau gehaltenen schlichten Bühnenraum mit drei verschieden großen Glocken und einigen Stühlen entworfen. Requisiten wie die bunten Papierlampions der Kinder werden sparsam eingesetzt. Die Schauspieler (Christiane von Poelnitz, Regina Fritsch, Barbara Petritsch, Peter Knaack, Falk Rockstroh, Johann Adam Oest) sind allesamt grandios und nur deshalb trägt der Abend, dessen zahlreiche Wiederholungen ermüdend wirken.

Bewegend die Szene mit dem Türmer, der den Glocken leise Klänge entlockt, als das Kind (oder seine Seele?) auf der Kirchturmbrüstung sitzt und er ihm sein Leben – wie es hätte sein können – ausmalt: mit Klassenfahrt, Schulabschluss und einer eigenen Familie in ferner Zukunft. Dann steht die Zeit still. Das Kind stürzt in die Tiefe und sieht noch einmal „trotz der Dunkelheit die Welt bis in die kleinste Einzelheit“. Märchenhaft und doch auch real.

Ein großes Lob dem Ensemble und dem Regieteam.