Übrigens …

Einzelzimmer im Theaterkollektiv per.Vers. Düsseldorf

In der Einsamkeit der Hinterhofzimmer

Opern-Ehen kriseln, erfolgreiche Intendanten werden fristlos entlassen, hochkreativen Stadttheatern wird mit Schließung gedroht – doch die Darstellende Kunst lebt: Mitten in der Krise wird in Düsseldorf ein neues Festival geboren. Der Schauspieler und Regisseur Christof Seeger-Zurmühlen und der Musiker und Komponist Bojan Vuletic haben ein Sommerfest aus der Taufe gehoben, das vor Kreativität nur so strotzt. Ungewöhnliche Theater- und Musikaufführungen an ebenso ungewöhnlichen Orten sowie eine poetisch-skurrile Stadtführung durch Kleingärten und Hinterhöfe sollen vorhandene urbane Strukturen aus neuen Blickwinkeln zeigen und auch bisher nicht theateraffine Zuschauer neugierig machen. Und tatsächlich: Kühn ist das Mühen, herrlich der Lohn.

Die Spielstätten im Hinterhof des HPZ, im unattraktiven Kleingewerbeviertel weit entfernt vom Glamour der Landeshauptstadt gelegen, platzten aus allen Nähten, als die Künstler des Festivals ihre Auftritte hatten. „150% Auslastung!“, jubelte Denis Geyersbach, einer der Protagonisten des ungeheuer einfallsreichen, witzigen Märchen-Hörspiels nach Hans Christian Andersen Die wilden Schwäne (siehe hier) – in der Tat wurden noch zehn Minuten nach geplantem Spielbeginn die erstaunlichsten Sitzgelegenheiten aufgetrieben, um dem Andrang Herr zu werden, und dennoch gab es für manche Zuspätgekommenen nur Stehplätze. Auch bei Einzelzimmer gab es eine lange Warteliste. „Ach egal“, hieß es schließlich, „gehnse mal hinter dem jungen Mann her; Sie kommen schon rein.“

Doch zunächst bleiben wir draußen: vor einer Rampe mit vier Garagentoren. Vor jedem der Tore hat sich eine traurige Gestalt platziert, die uns unbewegt und stur anschaut: die vier Protagonisten der vier Geschichten, die wir in den kommenden eineinhalb Stunden erzählt bekommen. Monologe über Einsamkeit und Isolation, auch über die vergebliche Suche nach Glück. Nach und nach verschwinden die vier im Gebäude, dessen Ambiente schon die Hälfte des Reizes dieses neuen Festivals ausmacht. Xolani Mdluli winkt, macht uns Handzeichen, ihm zu folgen.

Im ersten Raum wartet – nun, eigentlich niemand. Eine weibliche Singstimme lockt von fern mit poetischen Weisen. Wir sitzen mit dem Rücken zum Sprecher des literarisch anspruchsvollsten, vielleicht auch hermetischsten Text des Abends, der uns aus wechselnden Richtungen aus den rundum aufgestellten Lautsprecherboxen bedrängt. Andreas Spaniol spricht Dea Lohers Geschichte über ein Zimmer, das eine geradezu klaustrophobische Metapher für das unerfüllte Leben des Sprechers, für seine unerfüllte, nie versuchte Liebe ist. „Das Schweigen dieses unbekannten Zimmers ist wie geschaffen für mein eigenes Schweigen“, sinniert der Protagonist. Lange noch klingt der Schlusssatz des Monologs nach auf unserer Wanderung zur zweiten Station: „Hier war mein Leben. Hier war meine Kindheit, die bis zum Tod gedauert.“ – Ein großer, ein berührender, ein nachdenklich machender Text, dem Seeger-Zurmühlen gerade durch die Konzentration auf das Hörerlebnis zu besonderer Wirkung verhilft.

Ein Kontrastprogramm erleben wir eine Etage höher im zweiten Raum. Denn die Autorin des zweiten Texts beschreibt die Einsamkeit ihrer Figur mit Humor. Die „Hausfrau“ der niederländischen Autorin Esther Gerritsen kämpft mit der Kartoffel. Doch das Lachen bleibt uns im Halse stecken: „Es ist elf. Die letzte ungeschälte Kartoffel (die groß und prominent vor uns auf dem Bühnenboden liegt) ist die einzige, die bis 18:00 Uhr etwas von mir erwartet.“ Das Stück, das einst in den Berliner sophiensælen sehr komödiantisch gezeigt wurde, steckt bei Julia Dillmann voller Tragik. Die Kartoffel ist die einzige Lebensgefährtin der Protagonistin, denn die Felicitas-Hostess entpuppt sich – wie überraschend – nicht als die erhoffte Freundin, sondern als eiskalte Geschäftemacherin. Und der Traum vom Cowboy, der die Hausfrau um sechs Uhr aus ihrer Einsamkeit erlöst – nun, er ist doch reichlich illusorisch. – Julia Dillmanns spielfreudige Darstellung spitzt den Monolog zu, gibt ihm viel Bitterkeit, wenn nicht gar Aussichtslosigkeit bei. Dennoch bleibt – gerade im Kontrast zu dem hochliterarischen Loher-Monolog - das Gefühl zurück, einem recht klischeehaften Text beigewohnt zu haben, einem etwas verstaubt wirkenden Stück Frauenliteratur des späten 20. Jahrhunderts, ganz nett, aber nicht preisverdächtig.

Nackte, unverputzte schmutzige Ziegel bestimmen den nächsten Raum. Alexander Steindorf steht auf einem schmalen Sims in der Ecke wie die Selbstportrait-Skulptur von Martin Kippenberger und schämt sich: „Ich habe gefehlt!“, stammelt er immer wieder. Denn sein Wecker hat versagt. Erstmals in seiner langjährigen Karriere ist der Bank-Pförtner zu spät zum Dienst gekommen. Jean Tardieu, der Autor des letzten Monologs, den wir zu hören bekommen, ist ein Vertreter des absurden Theaters und des Surrealismus – mit dem oben unter der Zimmerdecke platzierten Stuhl trägt die ansonsten zurückhaltend agierende Raumausstatterin Monika Frenz dem Rechnung. Wird die Wichtigkeit der Funktion und die schwere Bürde des Pförtner-Lebens anfangs noch mit viel Ironie gezeichnet, so entwickelt Steindorf die Figur nach und nach immer beklemmender. Selbstmordversuche, surrealistische Szenen im Büro stellt er sich vor, immer halluzinatorischer werden seine Phantasien, immer erdrückender wird seine Angst. Erneut trägt der klaustrophobische Raum zur Steigerung der Atmosphäre bei; Alexander Steindorf macht auf den wenigen Metern seines Mauervorsprungs die vermeintliche Ausweglosigkeit der ihn bedrängenden Lage geradezu physisch spürbar.

Wir wandern noch ein letztes Mal weiter, vorbei an einer weiteren surrealen Bedrohung: einem Mann in einem Aquarium, den Kopf unter Wasser, die großen Augen geöffnet. Vor einer Treppe bleiben wir stehen. Oben singt die Sopranistin Hiltrud Kuhlmann eine wunderschöne, melancholische Arie. Bevor uns Xolani Mdluli wieder nach draußen geleitet, spricht er, der uns den ganzen Abend über nur mit freundlichen Gesten und Lächeln, aber ohne jedes Wort begleitet hat, uns endlich einmal an. Einen kurzen Satz adressiert er an uns. In seiner Muttersprache, einem Zulu-Dialekt vermutlich. Die Sprache verstehen wir nicht. Genau das lässt uns begreifen, dass auch sie oft einsam sind: die Migranten, die Entwurzelten, die Fremden, die doch Bürger unseres Landes sind. Einsam wie die vier Protagonisten, deren Geschichten wir zuvor gefolgt sind. Ja, die Ankündigung der Festival-Macher wurde wahr: Die Isolation der hier Rufenden wurde konkret fühlbar. Und der Wunsch der Festival-Macher wurde erfüllt: Sie sind dabei, dem Theater neue Publikumsschichten zu erschließen.