Der Blick von draußen
Man kennt das inzwischen. Man betritt ein altes Gebäude. Es riecht muffig und verwahrlost. Mit der Eintrittskarte wird man auf Erkundungsreise geschickt. Man darf nicht einfach im Sessel sitzen und die Kunst „kommen lassen“, man trägt selber Verantwortung für das Theatererlebnis, wird vielleicht gar zum Objekt gemacht und muss sich dann ständig fragen, ob es nicht sinnvoll und vor allem notwendig wäre, gegen diese Fremdbestimmung entschlossen aufzubegehren.
Deutschland privat ist eine Produktion des in:takt e.V. in Kooperation mit dem theater-51grad.com, ersonnen von Rosi Ullrich, geleitet von Karin Frommhagen und Charlott Dahmen und höchst fantasievoll und treffend ausgestattet von Trixy Royeck in einer alten Grundschule in Köln-Niehl. Es geht um das Leben in der Illegalität, um den – auch inneren – Kampf um eine gesetzeskonforme Identität. Die Zuschauer treffen in Viertelstundenabständen ein, bekommen einen Jeton in die Hand und werden in einen Roulettesaal geführt, wo sie auf eine Zahl setzen müssen. Die Kugel rollt – und bestimmt mittelbar den Weg des einzelnen Zuschauers durch den Abend. Meiner führt zunächst in eine Art Bordellzimmer. Hier werde ich alleine zurück gelassen und soll einen Text über einen in die Zwangsprostitution gezwungenen ukrainischen Jungen vorlesen, der übrigens live auf die Toiletten übertragen wird. Der Ausgang führt durch einen engen, stickigen Raum, in dem niedergedrückte Frauen in fremden Sprachen flüstern, jammern und nähen. Ich werde auf’s Amt gewiesen, da meine Formulare „nicht in Ordnung“ seien. Vor der Tür warten viele Menschen. Es geht kaum voran. Immer wieder werde ich gefragt, wer ich bin. Schließlich lege ich mir eine Identität zu: Ich bin ein aus dem Kosovo geflohener Katholik. Nicht originell, aber mir fällt nichts Besseres ein. Jede Viertelstunde erklingt ein Posaunensignal. Alle Türen öffnen sich, Menschen treten auf die Schwelle und schmettern düster den „Danke“, den Jugendgottesdienstschlager vergangener Jahre. In der Amtsstube regiert Herr Kowalski. Als ich drankomme, ist er nicht drin, nur drei Beisitzer sind da und führen mit mir ein Gespräch, irgendwo zwischen Folterkammer und mündlicher Abiturprüfung von schlecht vorbereiteten Lehrern. Von draußen erklingt ein Gospelchor. Herr Kowalski kommt und ruft mich von hinten zur Ordnung. Ich habe eine schwarze Linie auf dem Boden missachtet. Die Beisitzer tauschen Blicke. Mir wird eine Duldung ausgesprochen – für zwanzig Minuten. Ich muss ein medizinisches Gutachten erstellen lassen. Die freundliche Dame, an die ich gewiesen werde, erklärt sich für nicht zuständig, bescheinigt aber trotzdem irgendetwas. Jetzt muss ich auf das Amt zurück und erlebe die Geschichte eines Diplomaten, der seine Frau misshandelt, aber aufgrund seines Status‘ nicht bestraft werden kann. Acht Leute sind vor mir dran. Meine Duldung ist abgelaufen. Der Blick schweift. Vieles gibt es hier auf drei Stockwerken: ein skurriles Reisebüro, ein merkwürdiges Fotostudio, ein Restaurant mit leckerem exotischem Eintopf, Menschen, die versuchen – in guter oder schlechter Absicht – mit uns Illegalen Geschäfte zu machen, einen durch das Haus marodierenden Abschiebepolizisten und… und… und…
Das Besondere: Alle spielen. Nicht nur die 27 Mitwirkenden, angeführt von dem hemmungslosen Claus Reichel als Amtsleiter Kowalski, zusammengesetzt aus Schauspielern, Laien und Experten, alle Zuschauer spielen mit. Nie weiß man, mit „wem“ man es zu tun hat. Darsteller oder Passant? Zufällige Begegnung oder Spielsituation? Nach und nach findet man heraus, dass nicht alle Zuschauer zu Illegalen „geworden“ sind, sie sind auch Abschiebepolizisten oder Beisitzer des Gerichtes. Fast alle ziehen sich im Lauf der Vorstellung immer stärker auf ihre „Rolle“ zurück, ihre Funktion im Spiel, ihre angenommene Identität, um nicht zu stören und akzeptiert zu werden, um Teil zu haben an diesem funktionierenden System mit seinen undurchschaubaren Strukturen, dass uns draußen hält wie die illegalen Einwanderer, um die es eigentlich geht.
Dass das funktioniert, ohne offene Zwänge, aufgesetzten Humor oder Ausbrüche von Aggressivität, ist eine ungewöhnliche Leistung – und ein intensives Theatererlebnis der besonderen Art.