Übrigens …

FOLK im Duisburg, Gebläsehalle

Sehnsucht. Angst. Nasse Füße.

Ein einziger Moment erzählt (fast) alles. Du stehst an der schmalen Seite des großen Planschbeckens, das Romeo Castellucci in die leere Gebläsehalle gestellt hat. Neben dir taucht eine korpulente Frau auf, möchte ins Becken, schwingt das Bein über die Gummiwand. Aber sie hat nicht genug Kraft, wippt im labilen Gleichgewicht über dem 1 Meter 20 tiefen Betonabgrund. Du hilfst nicht. Die anderen auch nicht. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Ein dafür vorgesehener Statist stößt dich beiseite und wuchtet seine Kollegin ins Wasser. Warum haben wir nicht geholfen? Weil wir im Theater sind?

Um Gemeinschaft geht es in FOLK. Um das mögliche, das unmögliche „Zusammen“ mit der Welt drum herum und zwischendrin. Das Wasserbassin ist die Stätte der Begegnung. Immer wieder stehen sich zwei Menschen gegenüber und vollziehen ein fremdes, sonderbar vertrautes Ritual. Einer hebt einladend die Arme, sie umarmen sich, einer drückt den anderen sanft unter Wasser, sie halten sich aneinander fest. Sehnsucht ist zu spüren, Angst, Vertrauen. Zigmal der gleiche Ablauf, aber immer anders. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nie dasselbe. Keine neue Erkenntnis, aber eine brennende.

Und die „100 Statisten aus der Metropole Ruhr“ machen das großartig, vertrauen sich ganz dem Initiator Castellucci an.

Auf vier Metern Höhe beginnen die Rundfenster der Gebläsehalle. Plötzlich rumst etwas dagegen; ein Mensch, dann zwei, vier, schließlich – gefühlt – etliche. Laut und immer wieder. Verzweifelt oder aggressiv? Sie wollen hinein, zu den vielen, den allen. Sie dürfen nicht und lassen sich hinunterfallen. Draußen. Man hört sie nicht mehr. Die Begegnungen im Wasser gehen weiter, bis einem alten Mann die Umarmung verweigert wird. Scheren werden in das Becken gestochen. Es läuft aus. Der Boden wird geflutet. Du hast ganz kurz eine grotesk intensive Angst um deine Wildlederschuhe. Aber es gibt sichere Plätze – und eine Menge Zuschauer, die sich einfach die Schuhe ausziehen und fröhlich durch die Halle platschen. Der alte Mann steht da. Regungslos. Das Planschbecken wird zweigeteilt wie ein Schwan und hochgezogen wie ein havarierter Theatervorhang. Der Mann sitzt an einem Tisch und macht ein Formpuzzle, wie es Zweijährige machen. Der letzte Stein will nicht in die Form. Er wimmert. Der erste menschliche Laut seit einer Stunde. Er geht.

Karger Applaus. Viele schöne Fragezeichen.