Grandioser alptraumhafter Kafka-Abend
Rund 50 Jahre nach dem düster-expressionistischen Kinoalptraum Der Prozess von Orson Welles ist das Düsseldorfer Schauspielhaus mit einer Inszenierung des unvollendeten Romans von Franz Kafka in seine neue Spielzeit gestartet. Und was für ein Start. Die knapp dreistündige Inszenierung des russischen Regisseurs Andreij Mogutschi im Großen Haus geriet zu einem Triumph, ja zu einer berauschenden Orgie - vor allem - der Bühnentechnik, die am Gustaf-Gründgens-Platz leider viel zu selten zum Einsatz kommt.
Auf drei Ebenen bewegen sich die insgesamt rund 100 Akteure in dem tiefen Bühnengrund. Alleine 60 bis 70 Statisten bilden als schwarz-weiss-gekleideter Chor die Masse Mensch im Hintergrund dieses grandiosen, alptraumhaften Kafka-Abends, die mit ansehen muss, wie der 1. Prokurist Josef K. unaufhaltsam in den Wahnsinn, zuletzt in den Tod getrieben wird, weil er absolut nicht erkennen kann, warum ihm eine düstere, überbordende Justiz den „Prozess“ machen will.
In der Düsseldorfer Variante des Theaterstücks wird deutlich, dass sich der in Russland extrem erfolgreiche Regisseur wohl mehr als einmal den 1962 von Orson Welles gedrehten Film Der Prozess angeschaut hat. Natürlich ist alles auf der sich hebenden, drehenden, wirbelnden und abtauchenden Bühne im Großen Haus - wie im Film - in schwarz-weiß gehalten. Nur einmal zieht sich der grandiose finnische Schauspieler Carl Alm, der von Beginn an bereits wie verurteilt, wie versteinert, wie tot wirkt, sich einen grellroten Anzug an, lehnt sich gegenüber den ansonsten penetrant schwarz oder weiß auftretenden Protagonisten farblich auf und sucht vergeblich Kontakt zu Menschen, die ihm erklären könnten, weshalb er angeklagt ist, warum man ihm den „Prozess“ macht.
Schiefe Ebenen, Türen, die ins Nichts führen, ein kleiner Nachen, der im Nichts schwimmt, Birkenstämme rund um die Kanzlei des widerwärtigen Advokaten (Sven Walser), der nackt, mitsamt Nachttopf und Mätresse Leni (Betty Freudenberg) vom Bett aus den Prozess zu begleiten scheint. Eine Herde schwarz-weißer Kühe, ein dreistöckiges Haus, ein gutes Dutzend nackter Frauen und Männer - allesamt irgendwie mit dem „Prozess“ verbandelt, tauchen auf, haben aber offensichtlich nichts zur Erhellung beizutragen. Dutzende kleiner sowie eine monströse Riesenpuppe werden hin- und hergetragen und legen die Vermutung nahe, dass möglicherweise jeder Mann/jede Frau bereits von klein auf Schuld auf sich lädt und einen „Prozess“ provozieren könnte.
Nach unendlichen Wirren, unzähligen Vorwürfen - auch von Onkel Albert (Dirk Ossig) sowie dem Bankdirektor-Stellvertreter (Christian Ehrich) - und Rangeleien mit Wächtern kommt Josef K. irgendwann zum Aufseher, der ihm - leider nur vorgetragen und nicht gespielt - die „Parabel vom Türhüter vor dem Gesetz“ erzählt: Von einem, der zum Recht nicht vordringen kann, weil er nicht durchgelassen wird und nicht vehement genug Einlass begehrt. Am Ende stirbt in der vorgetragenen Parabel der Wartende. Die Hinrichtung von Josef K. wird in der Düsseldorfer Inszenierung nicht gespielt, ebenso wenig, wie die Prügelszenen.
Stattdessen wird in einer Art Schnipselspiel als Film das Leben von Josef K. im Schnelldurchgang in wenigen Minuten auf die Bühne gezaubert. Schnipp-Schnapp mit der Schere verliert der 1. Prokurist den Kopf. Der zweite Teil des Abends ist im Vergleich mit dem ersten leider viel weniger lebendig. In einem Zug - vorbei an Seen, Tälern und schneebedeckten Bergen - trifft der Hauptdarsteller erneut alle die Personen, die ihm vermeintlich bei seinem Prozess zur Seite stehen wollen. Quälend lange erklärt Josef K. schließlich, dass er auf die Dienste des salbadernden Advokaten verzichtet.
Wunderbar sicherlich auch die Szene kurz vor dem Ende des anstrengend-interessanten Theaterabends, als Josef K. zum Maler Titorelli (Pierre Siegenthaler) kommt. Der stellt ihm verschiedene Szenen aus dem Alltag von Gerichtsprozessen vor. Mal scheint der Verurteilte - obwohl kopflos - über die Richter zu triumphieren, mal betrauern die Richter, dass sie nach einem Urteilsspruch zunächst ohne Arbeit sind. Absurd und surreal, wie die ganze Geschichte, wie Kafkas Roman, wie der Film von Orson Welles ist auch die gekonnte Inszenierung von Mogutschi. Der hat Kafkas Text stark verkürzt und seiner Bearbeitung nicht zuletzt deshalb den Titel Der Prozess - nach Franz Kafka gegeben.
Lang anhaltender Applaus im Düsseldorfer Schauspielhaus, wenngleich anzumerken ist, dass das Publikum durchaus gespalten reagierte bei der Premiere. Für nicht wenige blieb der Stoff wohl schwer verdaulich. Was Mogutschi zusammen mit Bühnenbildnerin Maria Tregubova und dem für die Kostüme zuständigen Alexej Tregubov auf die Bühne bringt, ist auf jeden Fall ein Triumph der Bühnentechnik und ein praller Kostümabend, der so oder so ein Theatererlebnis seltener Art darstellt.