Rage against the Machine
Großes Theater am Grillo-Theater. Volker Löschs Methoden, ungewöhnliches, zeitnahes Theater zu machen sind bekannt: brennende, massenrelevante Themen, Einbindung von Laien, chorisches Arbeiten und Sprechen. So packend und sensibel – und dabei so ungeheuer kraftvoll – wie jetzt in Essen gelang aber auch sein Theater bisher eher selten.
Rote Erde nach dem Roman von Peter Stripp, bekannt geworden durch die 80er-Serie mit Claude-Oliver Rudolph und Dominic Raacke, da erwartet man ein historisches Sittengemälde, vielleicht durchsetzt von heutigen politischen Haltungen.
In Essen stehen zu Beginn zwölf Liegestühle auf der Bühne, dahinter eine Art Schlingpflanzenvorhang. Junge Männer kommen, setzen sich auf die Liegestühle, erzählen chorisch mit verteilten Stimmen Geschichten vom Scheitern junger Menschen auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft. Sie sprechen von Problemen in der Schule, vom Ausgenutztwerden im Praktikum, von Perspektivlosigkeit nach Ausbildung oder Studium, aber auch von der Schwierigkeit die Verantwortung für sich selbst und die eigene Familie zu tragen: „Im Kämpfen bin ich nicht so gut“. Diese zwölf „leidenschaftlichen Ruhrpöttler, die meisten von ihnen ohne Job“ (Programmheft) sind das Kraftzentrum der außergewöhnlichen Aufführung. Nach ihrem Prolog sehen wir auf die große, leere, eingenebelte Bühne und sind im Bergbau im Ruhrgebiet der Gründerzeit. Volker Lösch nimmt seine Laiendarsteller als Alter Egos der Hauptfigur Bruno mit in die Spielhandlung hinein und schafft es so in seinem zusammen mit Beate Seidel erstellten Sprechoratorium den historischen Arbeitskampf am heutigen Kampf um Arbeit zu spiegeln. Dabei stellen die zwölf Jungs das wesentliche theatralische Mittel des Abends zur Verfügung: Ihre Wut. Eine Wut auf andere und sich selbst, auf den „Strukturwandel“ an sich und seine repräsentative Aufhübschung und Ausschlachtung, auf eine Zeit, in der – heute wie wohl auch damals – der Mensch nicht im Mittelpunkt steht, was sich paradigmatisch an der Figur des Sozialdemokraten Karl zeigt, der sich durch seine Parteikarriere immer stärker von den Kumpeln entfernt, deren schlechte Arbeitsbedingungen doch eigentlich die Motivation für sein politisches Engagement waren.
Weit schwingt die Erzählung aus. Um die verzweifelte, aber unverbrüchliche Liebe zur Heimat Ruhrgebiet geht es genauso wie um die deutsche Geschichte, um Werteverschiebungen, Werteverluste und Sehnsucht nach Werten. Überhaupt: Sehnsucht. In der ganzen hoch energetisch ausagierten, analytisch grundierten Aggression frappieren diese Sehnsüchte am meisten, so unterschiedlich sie sind. Haus, Familie, ökonomische Sorgenfreiheit; die anarchistische Gesellschaft als „Sozialismus plus Freiheit“; der Platz im Leben mit sinnvoller, nicht entfremdeter Arbeit; das Schlaraffenland, wo es allen gut geht und dem Faulsten am besten.
Die – sämtlich grandiosen - Schauspieler profitieren von der physisch spürbaren Urkraft der Laienspieler und haben ihnen dafür offenbar von ihrem Handwerk abgegeben, ihrer Präzision, ihrer Fähigkeit zuzuhören, ihrem Einfühlungsvermögen. So wirkt dieses laute Theater der Körper, die oft spärlich bekleidet sind und oft – im Wortsinn – die Farbe wechseln, nie flach oder nervig. Es drückt einen mit Urkraft in den Theatersitz, aber es hat das Recht dazu. Nochmal gesagt: eine große Sache und ein unerhörter Beweis für die Lebenskraft des politischen Theaters.