Im Himmel steht nur eine Maschine
Verwüstet liegt das gute Land der Sprache.
Und Sätze ragen, kahl und abgelaubt,
das Nichts in ihren Ästen. Redensarten
stehn schräg im Raum, die Wurzeln in der Luft.
Der österreichische Dichter und Philosoph Günther Anders schrieb seine „Sprachelegie“ im Jahre 1944. Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer (Studium: Theologie und Philosophie) wurde erst 34 Jahre später geboren und debütierte mit seinen schrägen Sozialdramen im Jahre 2005. Doch perfekter als mit den eingangs zitierten Versen von Günther Anders kann man die Wirkung seiner Sprache nicht charakterisieren.
Palmetshofers Sprache sei eine Kunstsprache, heißt es allenthalben. Tatsächlich ist es artistisch, wie er mit den kahlen, abgelaubten Sätzen umgeht, mit dem Nichts in den Ästen der Kommunikation, mit den fehlplatzierten, schräg im Raum stehenden Redensarten. Sie haben eine perfekte Rhythmik; Wiederholungen, überraschende Schleifen mit Rückgriffen auf Zitate aus längst zu Ende gespielten Szenen zeugen von hoher sprachmusikalischer Virtuosität. Und doch glauben wir, diese Sprache schon einmal gehört zu haben: diese Platitüden, diese sinnentleerten Floskelkaskaden, diese vergeblich mit Pseudowissen aufgeladenen, in halbvollendeten Sätzen geleisteten intellektuellen Offenbarungseide. Es sind vorwiegend junge Menschen Mitte 20, Mitte 30, die so reden, Menschen, die, wie es in Palmetshofers wohnen. unter glas heißt, immer noch auf der Suche nach ihrem Zenit sind und, weil ihr Zenit so flach war, gar nicht gemerkt haben, dass sie diesen längst überschritten haben.
Sprachspiele ergeben sich dabei, die man bei dem schnellen Sprechtempo, das Palmetshofers Stücke erfordern, erst einmal entdecken muss: „Wenn du das planst, dass wir uns hier zufällig treffen, dann klappt das nie“, schnebbelt Bine in Daniel Schüsslers Inszenierung von hamlet ist tot. keine schwerkraft an der Studiobühne Köln und wirft Plan und Zufall munter durcheinander, als sie und ihr Partner Oli die einstmals guten Freunde Mani und Dani wiedertreffen, mit denen sie früher einmal überkreuz verbandelt waren. „Man muss ja nicht gleich wieder dick. Und die Umstände waren ja auch nicht so.“ Die furchtbar eifersüchtige Dani hatte zuvor bei Bine eine Schwangerschaft vermutet, aber Bine meint natürlich nur die Freundschaft, die angesichts der Umstände der Trennung nicht wieder dick werden muss. Zum Lachen über diese Doppeldeutigkeiten haben wir keine Zeit, wir staunen nur und haben Mühe, dem Tempo und dem verwickelten Plot zu folgen. Und schon folgt: die andere Seite von Palmetshofers Sprachakrobatik. Die Tragik, die Melancholie, die Poesie in den Formulierungen. Scheinbar unfreiwillig auch sie, doch funkelnd schön. Die Geschwister Mani und Dani, einstmals liiert mit Oli und Bine, sind Singles, leider: „wie zwei Planeten, die keiner besiedelt.“ - Sie haben eben – Achtung Titel! – „keine schwerkraft, die dani und der mani“, und wo die Liebe hinfällt, da muss es eben ein bisschen Schwerkraft geben, sonst fällt sie nicht, die Liebe.
So einfach die Sprache scheinbar ist, so komplex ist die Konstruktion des Stückes. Angesichts der permanenten, manchmal leicht veränderten Textschleifen, der quer zum Handlungsablauf montierten Szenen und vieler nicht ausformulierter Andeutungen erkennen wir erst spät die Zusammenhänge. Sechs Personen suchen einen Lebensinhalt. Zunächst aber befinden sie sich auf einer Doppel-Fête: Gefeiert werden Omas 95. Geburtstag und die Beerdigung von Hannes. Den hat, wie wir uns erst spät zusammenreimen können, sein Vater erschossen, weil er Geld für Drogen klauen wollte. Den zweiten Schuss hat Vater sich selbst gesetzt, weil seine Frau ein Knösken mit Danis und Manis Vater hatte. Dani und Mani, wie gesagt, fehlt die Schwerkraft, um die Liebe anzuziehen; drum treiben’s die Geschwister miteinander und sind hinterhältig eifersüchtig auf Bine und Oli, die aber auch so recht keinen Plan haben. Und Caro, „eine Mutter“, die zur Fête den Schweinebraten macht, spannt eine Schnur, damit Oma endlich die Treppe runter kugelt und sich das Genick bricht.
Nahezu jede(r) der Schauspier(innen) bekommt in Daniel Schüsslers Inszenierung Gelegenheit zu glänzen. Ina Tempel als Bine ist zu Beginn die kraftvollste und ausdrucksstärkste des Sextetts; Ingmar Skrinjars Oli zeigt uns eine hinreißende Parodie des „anonymen Buddhisten“, des von fernöstlichen Praktiken und Philosophien erleuchteten, aber in der deutsch-österreichischen Kleie stecken gebliebenen Esoterik-Freaks, und Susanne Kubelka kommt groß heraus mit ihrer Wutrede auf die „uns die Luft wegröchelnde“ Omma. Bei aller Lustigkeit des Stücks und der Dialoge wird die Tragik der Figuren in Köln deutlicher als in der Uraufführung vor fünf Jahren am Wiener Schauspielhaus; dafür ging Felicitas Brucker seinerzeit noch perfekter mit dem Rhythmus der eigenwilligen Sprache um.
Apropos Rhythmus: Der wird in den stärksten Szenen des Abends unterstützt durch die vom Band eingespielte Musik – von Henry Purcell bis zum belgisch-ruandischen Hiphop-Rapper Stromae, von „O solitude, my sweetest choice“ bis zu „Qui dit proches te dit deuils / car les problèmes ne viennent pas seuls“ (wer von der Verwandtschaft spricht, erzählt dir von Trauer, denn die Probleme kommen nicht von allein). Karl Kraus brachte das einfacher auf den Punkt: „Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit.“ Mag Purcells „Solitude“ als Ouvertüre reichlich bombastisch für das fast sechzig Minuten lang ein wenig banal dahinplätschernde Einfache-Leute-Drama klingen, so zündet der gute alte Henry mit seinem zweiten Einsatz nach einer knappen Stunde eine Rakete: Der getragene Rhythmus des „Song of Cold Genius“ aus Purcells „King Arthur“ untermalt die von Susanne Kubelka furios vorgetragene Suada gegen die 95jährige Oma. „Sieh doch, dass uralt ich und steifgefroren / die Kälte kaum noch mag ertragen, / schwer nur noch atme und die Regsamkeit verloren! / Geh, lass mich erfrieren in des Frostes Nacht.“ Der Text der Arie beschreibt wohl weniger das Begehren von Omma als dass er die Projektion von Caros Wünschen für ihre Mutter ist. Die Szene hat eine Kraft, die die Aufführung ab sofort auf eine neue Spannungsebene hebt.
Schnur weg, bevor der Krankenwagen kommt, empfiehlt Oli nach Omas Sturz. „Bine und ich, wir sind dann mal gegangen. Ich meine, bevor die Rettung kommt.“ - Immerhin ’ne Art von Aktivität. Zur aktiven Gestaltung ihres Lebens sind diese Figuren ohne Perspektive nämlich gar nicht in der Lage, alles wird passiv hingenommen. Hannes ist tot, Hamlet auch, denn die wahren Helden gibt’s nicht mehr. Und auch Gott ist tot. Der Himmel ist leer. Nur: „Das kann sich auch keiner lange leisten, dass man den Himmel lange leer stehen lässt. Und dann hat er sich einfach eine Maschine reingestellt, der Himmel.“ Die steht jetzt da und spuckt Zahlen aus. Lose. Lose für Loser – unsere sechs Protagonisten zuzüglich der abwesenden Hannes und Oma jedenfalls haben nur Nieten erwischt. Das schräge Familienstück hat eine verdammt existenzialistische Note.