Im stillgelegten Rathaus
Bad Moers - Der Intendant von Deutschlands kleinstem Stadttheater, Ulrich Greb, hat die Stadt Moers am Niederrhein seit dem 13. September in Bad Moers umgetauft. Das seit dem Frühjahr leerstehende alte Rathaus in direkter Nähe zum Theater ist die passende Kulisse für den Ibsen-Klassiker Ein Volksfeind, den Greb in wunderbaren zwei Stunden als grelle Polit-Groteske inszeniert. Im Eingangsbereich des Kurhauses stehen Heilwasser-Flaschen aus „Bad Moers“. In der alten Rathaus-Kantine sprudelt hinter blau schimmernden Scheiben „die Quelle reiner Lebensfreude“.
Das Publikum in der Moerser Fassung des 1883 uraufgeführten Volksfeind wird vom Anfang bis zum Ende einbezogen in das Stück, ist Volk, Patient und „kompakte Majorität“. Rund um die Heilquelle sitzend und stehend genießt man als Zuschauer, wie das Ensemble in weißen Bademänteln angeführt von Badearzt Dr. Stockmann (Patrick Dollas) mit reichlich „Ah's“ den Raum „durchschwimmt“, um anschließend auf der Wiese draußen Gymnastikübungen zu machen. Noch herrscht heile Welt in Bad Moers. Die Lokalredakteure vom „Volksblatt“, Hovstad (Frank Wickermann) und Billing (Ferhat Keskin) sind dabei, wenn Bürgermeister und Stockmann-Bruder Peter (Matthias Heße) das hohe Lied des Kurbades anstimmt.
Die Situation ändert sich schnell, als sich herausstellt, dass das vermeintliche Heilwasser verseucht und gesundheitsgefährdend ist. Während der Bürgermeister das Analyseergebnis unter der Decke halten will, schwingt sich der Badearzt zum Gesundheits-Bewahrer auf, der für die umfassende Sanierung des Heilbads plädiert. Die Presse und der Vorsitzende des Hausbesitzervereins Aslaksen sind anfänglich auf seiner Seite. Zum zweiten Akt begibt sich das Publikum in den ersten Stock des ehemaligen Rathauses, vorbei an Fraktionssälen bis hin zu einem langen Flur mit den Büros von Dezernenten und Bürgermeister Stockmann. Hier gibt es minutenlanges Tür-auf-Tür-zu-Theater mitsamt einem schwebenden Plastik-Hai, bis die beiden Brüder wie zu einem Duell aufeinander treffen.
Der Bürgermeister droht seinem Bruder mit Entlassung, zeichnet vor der „kompakten Majorität“ ein Schreckens-Szenario für den Fall des Veröffentlichung der Wasseranalyse. Arbeitslosigkeit, Rückzug der Investoren aus der Stadt, Verfall der Grundstückspreise und vieles mehr. Katrine, die Ehefrau des Badearztes (Katja Stockhausen) mahnt ihren Mann zur Besonnenheit und die kompakte Mehrheit beginnt leicht zu wanken. Im dritten Akt, im Treppenhaus waten die Zuschauer durch Papierhaufen und befinden sich in der Redaktion vom „Volksblatt“.
Hier gefallen sich Redakteure und Badearzt in aufpeitschenden Reden, in denen sie die herrschende Beamten-Clique und den Autoritäts-Mief in der Gemeinde als mitverantwortlich für den Skandal hinstellen. Eine Demonstration wird geplant, Stockmann beschwört ein „Bürgerthermometer“ und der Bürgerchor skandiert „Empört Euch“. Dann schlägt das Pendel um. Als der Bürgermeister die finanziellen Konsequenzen einer zweijährigen Schließung des Kurbetriebs aufzeigt, erklingt der Schlager „Du hast mich tausendmal betrogen...“. Der Vater von Katrine kauft die im Fallen begriffenen Aktien des Kurbads auf, Aslaksen und die „Volksblatt“-Redakteure verrenken sich in köstlichen Slapstick-Sequenzen und wechseln mitsamt der „kompakten Majorität“ das Meinungslager. Dr. Stockmann steht allein da.
Der letzte Akt spielt im leergeräumten Ratssaal. Beigefarbener Teppichboden und ein Ex-Kurarzt, der den Mächtigen der Stadt mithilfe einer E-Gitarre die Leviten liest. Erneut schwebt der Plastik-Hai über den Köpfen der Zuschauer. Dann wird abgestimmt. Der Arzt wird offiziell zum „Volksfeind“ erklärt. Fünf Jahre später schiebt der Bürgermeister, der inzwischen mit Katrine verheiratet ist, ein Riesenmodell von Bad Moers in den Saal. Gewachsen ist der Kurort - trotz schlechtem Wasser. Es gibt ein Dr.-Stockmann-Museum und - wer hätte das gedacht: Auch ein kleines Theater.
Ganz ganz langer Schlussapplaus für eine tolle Inszenierung, ein absolut spielbegeistertes Ensemble und eine außergewöhnliche Spielstätte, die für den Volksfeind wie geschaffen ist. Ähnlichkeiten mit dem realen Moers, das finanziell in großen Schwierigkeiten steckt und immer mal wieder den Bestand des Schlosstheaters in Frage stellt, drängen sich auf. Theaterbesucher mit Rückenschmerzen sollten sich vielleicht einen eigenen Klappstuhl mitbringen.