Marketplace 76 im Bochum, Jahrhunderthalle

Reigen menschlicher Verstrickungen

„Needcompany“: 1986 gründete der belgische Künstler Jan Lauwers diese Theatertruppe, und der Name ist Programm, verweist direkt aufs neue Stück. Denn Marketplace 76 verhandelt die Notwendigkeit einer Gemeinschaft in Zeiten des Unglücks und der Trauer. Sie wird, der entsetzlichen Schrecknisse wegen, die sich ereignet haben, zu einer Notgemeinschaft. Doch hinter einer Solidaritätsfassade tun sich Abgründe auf. Dabei dreht sich alles nur um das eine, also um Sex. In Form von frivolen Kinderspielen, Hörigkeit und Vergewaltigung, als Hurerei oder als Sex, den man schon lange nicht mehr hat.

Das alles führt zu dramatischen Folgen: Gefangenschaft, Selbstmord, Lynchjustiz, Sterbehilfe. Marketplace 76 ist ein düsteres Stück voller Grausamkeiten, Gewalt, Hass und Leidensschreien. Es ist aber auch ein skurriles Werk: ein Totentanz, episches Theater mit teils (deplatziertem) schrillem Witz, ein textlastiger Brocken über Verzweiflung, durchbrochen von harmoniesatten Songs, die in einem Alles-wird-gut-Nachtlied ihren (peinlichen) Höhepunkt finden. Kurzum: Das neue Werk der Needcompany, jetzt bei der Ruhrtriennale uraufgeführt, zieht mit und verstört, macht nicht halt vor dramatischem Kitsch und verärgert, überschlägt sich mit immer neuen Pointen menschlicher Verstrickung und tappt so in die Falle langatmiger Belästigung.

Alles beginnt mit einer Gedenkfeier. Die Gemeinschaft der Trauernden erinnert sich des furchtbaren Unglücks einer Gasflaschenexplosion, ausgelöst durch menschliches Ungeschick. Reden ersticken im Schluchzen, jeder will seinen Schmerz verkünden, ein babylonisches Gewirr von Wortfetzen ist die Folge. Einfache Leute in wilder Rückschau, ein leiser Gesang zu den Namen der Toten, und hinten zucken Tänzer, in gespreizten, gedrechselten Bewegungen. Das Verrenken der Glieder entpuppt sich als Symbol eines Deformationsprozesses.

Jan Lauwers und seine Company fassen das Geschehen in drei Akte: Sommer zeigt den Trauer-Epilog, das Auftauchen eines Fremden, eines vom Himmel gefallenen Deus ex machina, der offenbar Gewalt über die Menschen hat, sowie das ungeheure Verbrechen, das mit dem Titel des Stückes verknüpft ist. Marketplace 76 steht für die Tat des pädophilen Monteurs, der ein Mädchen 76 Tage lang in einem Schacht unter dem Marktbrunnen gefangen hielt und missbrauchte.

Herbst: Das Mädchen wird befreit, der Peiniger und Nichtschwimmer fällt unglücklich in den Brunnen, die Gemeinschaft lässt ihn ersaufen. Schließlich Winter: Die Frau des Monteurs, Mitwisserin seines Vergehens, wird 76 Tage eingesperrt, um Buße zu tun. Der Schnee fällt unaufhaltsam, die Toten tanzen und kommentieren, die Büßende leidet in stummem Schrei. Sie entpuppt sich im übrigen als Hure der Gemeinschaft. Zu ihr kamen die Männer und zahlten.

Dass ausgerechnet sie, plötzlich schwanger, zu einer Heiligen wird, als Mutter einer neuen (besseren?) Generation, in Gestalt einer aufblasbaren Riesenbabyfigur, ist die größte aller seltsamen Pointen. Das Stück ist aus, nun ja, Applaus.

Faszination einerseits, fader Beigeschmack zum anderen. Lauwers und sein verschworenes Spielkollektiv – ein Hervorheben einzelner Schauspieler verbietet sich hier – greifen den Fall des belgischen Kinderschänders Dutroux auf, spielen mit Bezügen zu Lars von Triers düsterem Film Dogville. Sie mischen Elemente der Arte povera mit rasantem Improvisationstheater, lassen im Brechtschen Sinne die Hüllen der Illusion fallen, setzen banale Songs gegen verstörenden Seelenstriptease. Das ist, ächz, ziemlich viel auf einmal.