Übrigens …

Playing Cards 1 – Spades im Essen, Zeche Zollverein, Salzlager

Spiele in Zeiten des Krieges

In den nächsten Jahren wird der franko-kanadische Theatermagier Robert Lepage seinen Zuschauern ein Kartenspiel zeigen. Vier Teile soll sein neues, insgesamt ca. zwölfstündiges Stück haben, benannt nach den vier Farben eines Kartenspiels: Pik, Herz, Kreuz und Karo, wobei die vier Farben jeweils für einen Oberbegriff stehen, der die Handlung des jeweils für sich stehenden Stücks dominiert. „Pik“, auf englisch „Spades“, steht in erster Linie für den Krieg; „Heart“, das gerüchteweise bei der Ruhrtriennale 2013 seine Europa-Premiere erleben wird, für Liebe und Religion – und so geht es weiter.

Jetzt also „Spades“. Das Stück wirft Schlaglichter auf die Auswirkungen des Krieges, aber auch hier kommt die Liebe nicht zu kurz – unglückliche Liebe ausschließlich. Es spielt im Jahre 2003 im Sündenbabel Las Vegas, blickt aber auch nach Bagdad, auf den Irak-Krieg. Zwei Wüstenstädte, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten – so unterschiedlich wie die Personnage, die sich dort trifft: Ein britischer TV-Produzent, seine französische Geliebte, illegale mexikanische Zimmermädchen, ein spanischer und ein dänischer Soldat, die in den Irak-Krieg geschickt werden, ein kanadischer Physiker und seine Frau, die sich in Las Vegas trauen lassen, und andere mehr. George W. Bush salbadert vom Fernsehschirm herab über die Wichtigkeit des Irak-Krieges für die Rettung der Demokratie, und ein Engelszungenteufel-Cowboy verführt die frisch verheiratete und schwangere Kanadierin und lässt sie dann auf gepackten Koffern sitzen. Zuvor hat ein wunderbarer Elvis als Standesbeamter die Trauungszeremonie zelebriert: mit Hilfe ungezählter Presley-Songs!

All diese Personen haben scheinbar nicht allzu viel miteinander zu tun; kleine individuelle Geschichten werden erzählt, die sich im Laufe des zweidreiviertelstündigen Abends fast unmerklich miteinander verzahnen. Recht unspektakulär wirkt das auf den ersten Blick; das Ganze läuft in recht gleichmäßigem Tempo zwischen andante und allegretto ab. Härte und Temperament bekommt die Aufführung im ersten Drittel vor allem in der sich erst allmählich als Ausbildungsübung entpuppenden Szene, in der ein amerikanischer Ausbilder mit brutalem Drill und sadistischem Größenwahn an den Full-Metal-Jacket-Sergeant Hartman erinnert und den dänischem Soldaten auch sexuell bedrängt. Der Däne flieht später vor weiteren Irak-Einsätzen, von den Schrecken des Krieges psychisch beschädigt: Er wird berührend gespielt von dem Deutschen Martin Haberstroh. Am meisten fasziniert das Spiel des TV-Produzenten, was darauf zurückzuführen sein mag, dass die Story des spielsüchtigen Geschäftsmanns die komplexeste Geschichte des Abends ist. Seine Kreditkarten sind längst gesperrt; er betrügt seine Frau, kommt nicht zum erhofften Geschäftsabschluss, wird erpresst – und gewinnt wundersamerweise im Casino. Um dann doch mit unendlicher Traurigkeit sein Geld dem Zimmermädchen zu vermachen und zum Sterben in die Wüste zu gehen, wo er auf den Teufel trifft (den, der die Kanadierin vernascht hat).

Musikalische Elemente und revueartige Einlagen bringen Schwung und Entertainment in die Aufführung. Sie passen naturgemäß wunderbar zur Las Vegas Szenerie, werden aber im Verlaufe der Aufführung seltener. Unauffällige, kaum wahrnehmbare Hintergrundgeräusche verorten die einzelnen Szenen authentisch an den unzähligen verschiedenen Schauplätzen, wobei die schnellen Ortswechsel auf der kreisrunden, teilweise drehbaren Multifunktionsbühne mit Hilfe eines wahren Wunderwerks an technischen Vorrichtungen und Tricks bewältigt werden – eine Spezialität von Lepage, dessen Truppe sich nicht von ungefähr „Ex Machina“ nennt: Da fahren in Windeseile Türen, Fernsehschirme oder Casinotische aus versteckten Schächten, Hotelzimmer wandeln sich zu Poolbars oder einer Flughafenabfertigungshalle; überall gibt es kleine Ritzen, Falltüren oder Vorrichtungen, aus denen die Requisiten für die nächste Spielszene hervorkommen. Unter der Bühne wuseln die Ex-Machina-Spezialisten auf kleinen Rollbrettern und bedienen dieses bühnentechnische Meisterwerk mit ungeheurer Präzision oder reichen kaum merklich Requisiten an. Bühne, Licht und Sounddesign sind die eigentlichen Stars dieses Abends, der wie stets bei Lepage ein „Work in Progress“ ist und jeweils auf die neuen Spielstätten angepasst wird: Nach der Uraufführung in Madrid und dem Heimspiel in Toronto gibt es auch in Essen Adjustierungen, sogar veränderte Dialoge und Spielszenen, und Lepage beteuert, diese Fassung gefiele ihm bislang am besten.

In ihrer Erzählweise erinnert diese Lepage-Produktion an manche Abende der Needcompany, die wir in diesem Jahr ebenfalls wieder bei der Ruhrtriennale sehen konnten: Unaufgeregt und ruhig werden interessante kleine Geschichten erzählt, deren Wucht sich ganz, ganz langsam entwickelt, ohne jemals in Explosionen zu enden. Man kann sie als kleine private Episoden konsumieren, aber auch das große Ganze dahinter entdecken, die gesellschaftspolitische Dimension: die Absurdität und den Zynismus des Irak-Krieges, den Druck und die Ängste, denen auch die patentesten illegalen Einwanderer ausgesetzt sind, die Verführungen durch Drogen, Sex und Gewalt, die in „Sin City“ exemplarisch für die ganze Welt geballt auftreten, die Notwendigkeit von „Obamacare“ (das Zimmermädchen kann sich die erforderliche medizinische Behandlung nicht leisten) und vieles andere mehr. Man kann, man muss aber nicht. Vielleicht ist es eine Schwäche der Inszenierung, dass wir sie auch ganz passiv an uns vorbeirauschen lassen können, ausschließlich auf die phantasievoll-perfekte Bühnentechnik konzentriert. Vielleicht ist es eine Schwäche, dass wir nur selten emotional in die Gedankenwelt der Figuren einsteigen. Aber gutes Theater ist es schon – und vor allem eine Form des Erzählens, die wir in Deutschland kaum mehr kennen, konservativ im erzählerischen Vorgehen und höchst innovativ in den Mitteln. Grund zur Vorfreude auf Hearts im Spätsommer 2013.