Einige Nachrichten an das All im Dortmund, Schauspielhaus

Tiekgisolnnis

Wenn man sich beim Lesen durch ein gutes Drittel des Stücktexts gequält hat, stolpert man über eine erste Fußnote. Lum und sein Buddy Purl Schweitzke, zwei behinderte Schwule, die sich sehnsüchtig ein Kind wünschen, haben Sorge, ob sie im Stück tatsächlich vorkommen. „alles kommt vor und – huch! – ist es wieder vorbei“, notiert Lotz. Als Fußnote. - Nachdem wir die restlichen zwei Drittel des Texts gelesen haben, sind wir bei Fußnote Nr. 64 angelangt. Manche davon sind nicht – huch! - schon wieder vorbei, sondern erzählen auf halben Seiten ganze Geschichten, andere lauten ohne jeden Sinnzusammenhang z. B. „das warten der heringe im kühlschrank“ oder buchstabieren „Sinnlosigkeit“ rückwärts.

Wie die Fußnoten, so das Stück. Kraus, durcheinander, mit ganz viel tiekgisolnniS. Seinem Schöpfer brachte es die Auszeichnung als Nachwuchsautor des Jahres 2011 bei der jährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute ein. Wolfram Lotz denke stets Metaphysik und Mettbrötchen zusammen, schreibt Barbara Burkhardt – die Nachrichten an das All nennt sie treffend „eine größenwahnsinnige Zumutung zwischen Dada und existenzieller Sinnsuche.“ Den Größenwahnsinn inszenatorisch in den Griff kriegen zu sollen, ist auch für das Theater eine Zumutung.

Die Zueignung ist der Schlüsselsatz zur Rezeption des Stücks: „Wir befinden uns in einer Explosion.“ Und da fliegt uns halt alles um die Ohren: ziemlich viele Katastrophen, unerfüllbare Sehnsüchte, Wind und Weltraumschrott, Träume, die Vögel, die es nicht gibt, und die Schneeflocken, die in den Bach fallen. Schwester Inge von der Kinderonkologie geistert durchs Stück, die Kinder spielen die Ankunft des Erlösers; Hilda geht beim Autounfall drauf, lässt ihren verzweifelten Vater suchend zurück, parliert aber später als etwas doofes Henriette-Vogel-Double mit Heinrich von Kleist am See, na ja, und Lum und Purl warten auf das Kind wie Wladimir und Estragon auf Godot, was Kay Voges wohl bewogen hat, sie tatsächlich wie zwei Beckett-Figuren auszustaffieren. Ach ja: Und immer wieder gibt es da den Leiter des Fortgangs (LdF), das arme Schwein, das den ganzen Kladderadatsch irgendwie verbinden muss und nicht nur Lum und Purl vergeblich den Kinderwunsch ausredet, sondern in der Stunde der Explosion einige Nachrichten an das All einzufangen versucht. Als Absender qualifizieren sich allerdings nur bedeutende Persönlichkeiten aus Historie und Medien, was zwangsläufig auf eine dicke Frau aus der Sat1-Talkshow „Britt“, auf Heinrich von Kleist, auf den exzentrischen Botaniker und Ichthologen Constantine Samuel Rafinesque (1783-1840) und auf Ronald Pofalla hinausläuft - ist ja klar, auf wen denn sonst? (Die existierten oder existieren tatsächlich alle ganz real, nur bei der dicken „Britt“-Tante weiß man das nicht so genau, aber das ist auch egal, denn die darf eh‘ keine Nachricht ans All senden, weil sie nämlich aus der Sat1-Sendung herausgeschnitten wurde, de facto also inexistent ist.)

Wollen Sie jetzt auch noch wissen, was denn die existenziellen Letzten Nachrichten von unserem Planeten sind? Na gut: Der Naturforscher röhrt ein inbrünstiges „Mama“ ins Universum, Pofalla ein sonores „Bums“ und Kleist, der das alles nicht unzutreffend als „ein wirres, entsetzliches Wuchern“ bezeichnet, weigert sich, denn „die Sprache reicht nicht dafür aus zu sagen, … wie diese Welt … wie eine wirre, wuchernde Kartoffel durch das entsetzliche All trudelt.“ Dazu brauche man eine neu erfundene Indianersprache – und schwupps hätte der Zuschauer, wenn er ihn denn kennen würde, den gedanklichen Schwenk zu Rafinesque vollzogen, der eine solche Maya-Sprache vor 180 Jahren gefunden und analysiert hat. Ein paar Szenen weiter rudert Kay Voges‘ Kleist denn auch als Indianerhäuptling mit imposantem Federschmuck den Hang der Halde Bottrop im Kanu hinan.

Bei dem Versuch, solch logische und klar gegliederte Literatur mit 64 Fußnoten auf die Bühne zu bringen, hat Kay Voges am Schauspiel Dortmund exakt den umgekehrten Weg beschritten wie Annette Pullen bei der Uraufführung in Weimar im Februar 2011. Die hatte das Ganze, wie man lesen kann, auf die kleine Studiobühne verfrachtet und die größenwahnsinnige Welten-Explosion zum phantasielosen Textverwursten verkleinert (nachtkritik.de). Dem Dortmunder Team war klar, dass Weltraum-Nachrichten von Kleist und Pofalla nach einer größeren Dimension verlangen. Von riesigen Hallen hatte es geträumt, wahlweise von Museumsräumen. Die gab’s aber nicht, und jeden Abend ein ganzes Bühnenbild explodieren zu lassen, sprengte wohl auch das Budget. So kapitulierte auch Voges vor der Enge des Theaters – und drehte einen Film. Einhundert von einhundertzehn Minuten tut sich auf der Bühne des Großen Hauses: nichts. Wir schauen auf eine große Leinwand und sehen die wunderbaren Dortmunder Schauspieler, die uns mit jedem Besuch mehr ans Herz wachsen, zwar in Farbe, aber nicht live.

Erstaunlich, dass das Premierenpublikum dies ohne Murren hinnahm – der eine oder andere fühlte sich vergackeiert, aber mit zunehmender Dauer des Abends waren die meisten von der surrealen, rätselhaften, so ironisch-witzigen wie bedrohlichen Atmosphäre von Voges‘ Experimentalfilm gefangen genommen. Da lodert das Feuer im VW Passat, mit dem Hilda auf der Halde Bottrop verunglückt, da brennt ein einziges geheimnisvolles Licht im einsamen Hochhaus, und im romantischen Licht der Nacht schwebt die kleine Theaterbühne mit Lum und Purl (Frank Genser und Uwe Schmieder als großartige melancholische Beckett-Clowns) auf den stillen Wassern des Halterner Silbersees. An dessen Ufern schlurft und springt Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist im Sand und stottert wie der Dichterfürst Lotz – und wie es der echte Kleist es in seinen späten Jahren auch getan haben soll. Die Szenen mit Björn Gabriel als Kleist, der auch schon mal über die Explosionszeichnung seines Mopeds und den dazu gelieferten Kurbelwellendichtring von 1793 berichtet, gehören zu den dichtesten des Abends – kein Wunder, haben doch die Redakteurin Ulrike Timm und der Theaterkritiker Peter Michalzik in einem Gespräch bei Deutschlandradio Kultur Heinrich von Kleist als echten „Katastrophenjunkie“ klassifiziert; er passt also perfekt ins Stück. Blitze zucken, Comic-Figuren tanzen, grüne Planeten rollen durchs All, ein Baby wird geboren. Und welch ein Schreck durchzuckt uns (ganz ohne Ironie diesmal): Die Füße verlassen gerade den Mutterleib in der Mitte der Leinwand, da zerbirst diese, und mitten durch den Kinderleib kracht ein veritabler VW, diesmal ganz in echt auf der Schauspielbühne. Auch Hildas Nachkommen gehen in der Explosion zugrunde.

Tatsächlich geht es Lotz um existenzielle Fragen, um den Tod und das, was danach ist. Die Aufführung endet in Dortmund überraschenderweise doch mit allen sieben Leinwandhelden live on stage. Die singen einen alten Bob Dylan Song, und beim Refrain fallen tatsächlich manche im Publikum mit ein: „When the cities are on fire / With the burning flesh of men / Just remember that death is not the end.” Viele im Publikum haben wohl vorher noch überlegt, ob sie buhen oder klatschen sollen angesichts der ausgefallenen Theatervorstellung. Nun aber gab es rhythmisches Klatschen.

Und wenn schon alles Gaga oder Dada ist, sinnierte der Unterzeichner über die Möglichkeit von übersinnlichen Nachrichten aus dem All: Heute, beim Dortmunder Saisonstart, gedachte Kleist der Henriette. Gestern, beim Saisonstart in Moers, über den Andreas Rehnolt an dieser Stelle berichtet (siehe hier), gab es auch eine Henriette. Das war der Hund vom Bürgermeister in Ibsens Volksfeind: als zitteraalmäßiger Fuchsschwanz mit eingebautem ferngesteuertem Bell- und Winsel-Mechanismus der heimliche Star des Abends. 100 Minuten Film in 110 Minuten Theater – das ist ein dicker Hund. Und der Voges Kay – jo mei, a Hund is des, a dammischer.