Die Ehe der Maria Braun im Bochum, Schauspielhaus

Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles

Irgendwann in der Mitte des Stücks besucht Maria Braun ihren Ehemann Hermann, der sich für sie geopfert und den von ihr begangenen Mord auf sich genommen hat, im Gefängnis. „Ihre Zeit ist um“, sagt die Gefängniswärterin. - „Im Gegenteil“, entgegnet Maria. „Meine Zeit fängt jetzt erst an.“

Die Zeit von Rainer Werner Fassbinder, der im Jahre 1982 im Alter von 37 Jahren starb, war viel zu schnell um. Die Zeit seiner Werke hält unvermindert an. Insbesondere Die Ehe der Maria Braun wird inzwischen auf vielen Theaterbühnen erfolgreich nachgespielt. Wahrscheinlich kann keine Darstellerin der Maria jemals Hanna Schygulla aus Fassbinders Film von 1979 das Wasser reichen. Und vielleicht hat sich keine Theater-Inszenierung so eigenständig emanzipiert von Fassbinders Film wie Thomas Ostermeiers grandiose Fassung an den Münchner Kammerspielen, die mittlerweile mit Mann und Maus an die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin migriert ist. Aber nun hat auch Bochum eine sehenswerte, mit zunehmender Dauer immer eigenständiger werdende Interpretation zu bieten.

Die schlägt einen großen Bogen von den letzten Jahren des Krieges bis zur Eurokrise des Jahres 2012. Wenn man so will: von Adolf Hitler bis zu Angela Merkel. Aus Jan Neumanns Sicht: von einem Deutschland der Kriegsverlierer zu den arroganten Königen Europas. Stumm ist die erste Szene, sie nimmt aber mit ihrer dichten Atmosphäre sofort gefangen: Da findet eine Hochzeit statt, die von Maria und Hermann – mit Hakenkreuzfahne, Fliegeralarm und einer riesigen Staubwolke. Bomben haben getroffen, Städte werden zerstört. Langsam legt sich der Nebel, der Krieg ist aus, und Maria ist allein. „Auch ihr habt nicht lange voneinander gehabt“, scheppert Marias Freundin Betti Klenze, aber Bettina Engelhardts Maria lächelt selig: „Doch. Einen halben Tag und eine ganze Nacht.“

Was folgt, ist bei Fassbinder die Geschichte einer großen Liebe. Gleichzeitig die Geschichte des Wirtschaftswunders in der BRD und das Psychogramm einer Frau, die die Konventionen des Patriarchats aufbricht. Die Liebesgeschichte ist schon im Film verwunderlich – bei Regisseur Jan Neumann in Bochum mag man sie nicht glauben. Bettina Engelhardts Maria, eine stolze, mutige Frau, die ihren ganz persönlichen Wiederaufbau kraftvoll, emanzipiert und ohne Rücksicht auf eigene oder anderer Leute Befindlichkeiten angeht, schwankt zunächst noch zwischen Gefühl und Pragmatismus, zwischen Trauer und Überlebenswillen, zwischen Stolz und Unglück. Doch wandelt sie sich mehr und mehr zum Material Girl. „Es ist keine große Zeit für Gefühle, glaube ich. Aber mir ist das lieber so“, antwortet sie auf die erschreckte Frage ihrer Familie nach der Kälte zwischen den Menschen. Da dämmert uns die Aktualität der Geschichte. Maria schläft und arbeitet sich hoch bis zur rechten Hand des Industriellen Oswald, mehr auf der Suche nach Reichtum denn auf der Suche nach Anerkennung. Jan Neumann, Bettina Engelhardt und der Bühnenbildner Daniel Angermayr inszenieren Marias Aufstieg als einen Tanz ums Goldene Kalb, in diesem Fall um die rote Handtasche und den roten VW, mit dem Maria eine Art Oral-Verkehr betreibt. Betti, die sich passiv ihrem Schicksal ergibt und in der Armut stecken bleibt, bewundert ihre Freundin Maria ganz ohne Neid: „Du hast Dich aber gemacht!“ – Maria erkennt die Doppeldeutigkeit dieser Bemerkung: „Ja, ich habe mich gemacht!“ ruft sie aus, immer wieder, immer lauter, immer ekstatischer – Maria wird in dieser Bochumer Interpretation durchdrehen, tyrannisch und verrückt werden. „Vom Teufel besessen“, sagt sie selbst, und tatsächlich trägt ihr Gesicht mephistophelische Züge.

Der VW vermehrt sich, der Immobilienbesitz auch, Maria sonnt sich in ihrem Reichtum, mit goldenen Schuhen, in goldenem Kleid. Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach wir Armen … Denn arm wird sie, diese Bochumer Maria, sie häuft Vermögen an, bleibt aber ohne Liebe, ohne Glück. Als Hermann in diesem brüchigen Happy End der Liebe nach dem Tode von Marias Chef, Liebhaber und Geldquelle Oswald zu ihr zurückkehrt, sie beide jeweils die Hälfte des Vermögens von Oswald geerbt haben und zusammenlegen, steht Maria wieder mit Brautschleier da, Hermann in Frack und Zylinder. Ein Brautpaar wie zu Beginn. Aber keines mehr, das lebt, das Feuer hat und Liebe. Es ist entrückt von der Realität, steht ganz oben auf dem Turm seines Reichtums, einem Turm zu Babel - der nun gedanklich zur Hochzeitstorte wird. Maria und Hermann sind die Püppchen von Braut und Bräutigam, wie wir sie von der Torte von Café Heinemann kennen. Unter ihnen schrubben die Putzfrauen den Boden. Putzfrauen mit griechischem, irischem, portugiesischem, spanischem Kopftuch. Anstelle der Bundeskanzler-Bilder, die in Fassbinders Film zum Schluss eingeblendet werden, haben wir Ausschnitte aus ihren Reden gehört. Weit über Fassbinders Tod hinaus. Von Kohl 1990 zu den blühenden Landschaften, vom präsidialen Wulff zum Islam, der zu Deutschland gehört, von Merkel 2012 zur Euro-Krise. Maria und Hermann gehen nicht wie bei Fassbinder in einem explodierenden Haus zugrunde, sie erstarren in Kälte und Herrschsucht. „Herrschsucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus – Liebe träumt sich in jede Wüste“, heißt es bei Schiller. Liebe hat diese Maria längst verlernt. Und längst vergessen, dass Hermann sich jahrelang im Gefängnis für sie geopfert hat. „Ich habe dir alles geschenkt“, sagt Hermann. „Mein ganzes Vermögen.“„Und ich habe dir alles geschenkt“, entgegnet Maria. „Mein ganzes Leben.“ – Das Schlimme ist, sie glaubt daran.

Man mag das Ende als reichlich plakativ empfinden; politisch fragwürdig ist es sicher auch, Deutschland als europäische Konjunktur-Lokomotive und Financier von verantwortungslos über ihre Verhältnisse lebenden Staaten als selbstsüchtiges und herrschsüchtiges Feindbild zu denunzieren (und die tapferen Iren werden empört aufschreien, wenn sie mit Griechenland in einen Topf geworfen werden). Aber Wucht und Kraft hat dieses Ende schon; das Schrille, Plakative ist kalkuliert. Dass Neumann es anders kann, hat er in den ersten zwei Dritteln der Aufführung gezeigt. Da führen kleine Miniaturen höchst sensibel in die Charaktere selbst kleinster Nebenfiguren wie Roland Bayers traumatisiertem Doktor ein. Liebevoll und mit sympathischer Ironie wird die Figur des von Maria zur Seite gedrängten Oswald-Adlaten Senkenberg gezeichnet, aus dem Daniel Stock ein Bravourstück komödiantischer, aber nicht denunzierender Schauspielkunst macht. Maja Beckmann überzeugt als Betti Klenze, aber auch in einer Vielzahl kleiner Nebenfiguren mit großem Einfühlungsvermögen. Sensibel steuert Neumann auch die atmosphärische Wirkung der Aufführung: Bei den entscheidenden Sätzen, die Marias Welt zu ändern vermögen, setzen alle Hintergrundgeräusche aus, verstummt die Musik, erstarren die anderen Figuren – und es wird mucksmäuschenstill im Publikum. Gleichberechtigt stehen Erzählerisches und Zeichenhaftes nebeneinander – wunderbar der Abschiedsbrief von Hermann, der nur durch eine rote Rose dargestellt wird; das Gelingen des Geschäftsabschlusses, mit dem Maria den Durchbruch für Oswalds Unternehmen schafft, wird symbolisiert durch das plötzlich heller scheinende Bühnenlicht. – Neumann und sein Team packen viele kleine Theatertricks aus. Aber wirklich groß, wirklich eigenständig wird die Inszenierung erst durch das furiose Ende.