Bergtee gegen das Vergessen
An der Theaterkasse bekommen wir einen Stadtplan und eine Adresse in die Hand gedrückt. „Einfach klingeln; wir kommen gleich nach“, sagt die Pressereferentin. Fünf Minuten später befinden wir uns im Treppenhaus eines Privathauses. Etwas unsicher tun wir, wie uns befohlen: Wir klingeln an der Wohnungstür. Allzu harmonisch klingen die Geräusche nicht, die wir hinter der Tür vernehmen – offensichtlich streiten sich da zwei Männer. Nach geraumer Weile wird die Tür geöffnet. „Herzlich willkommen zur Geburtstagsfeier“, begrüßt uns der ältere Herr; „schön, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.“ – Er scheint mich zu kennen; ich kenne ihn nicht. Sehr aufgeregt wirkt er, und etwas unsortiert. Kurze Zeit später spricht er mich erneut an: „Sie waren Frau …?“ – Kurzer Mirror Check: knapp 1,90 m groß, Hühnerbrust, aber deutlicher Bauchansatz, Hubschrauber-Landeplatz zwischen den schütteren grauen Haaren – er kann mich unmöglich für ein Mädel halten!
Nun, inzwischen habe ich mich mit den anderen Gästen der bevorstehenden Feier in der Wohnung umgesehen. Statistiken über Alzheimer und Demenz hängen an den Wänden, Berichte über die Ausbreitung der Krankheit, über Pflegeheime Pflegekosten, über die konfliktgeladenen Beziehungen der Angehörigen zu Demenzkranken liegen auf den Tischen und Sideboards. Berichte über Maggie Thatcher, Ronald Reagan, Walter Jens – die Promis unter den Betroffenen. Beim Lesen stört immer mal wieder der aufflammende Streit zwischen Vater und Sohn. Nur einer sitzt ganz ruhig im Wohnzimmersessel und löst Sudokus; Hildegard Knef singt ihre Lieder dazu über die Stereo-Anlage. Spät erst bemerken wir: Es ist Michael Stange; er gehört zum Schauspieler-Team und greift ab und zu moderierend ein. Erst einmal folgen wir der Aufforderung des Vaters, mit ihm für seinen Sohn „Happy Birthday, lieber Jörg“ zu singen.
Natürlich hat Jörg Witte nicht Geburtstag. Aber immer wieder will Vater das spielen, und ich spiele es eben mit, sagt Jörg, denn das gefällt ihm, und es beruhigt ihn. Dreieinhalb Ebenen hat die Aufführung „Wir Wütenden“, die der Regisseur Oliver Krietsch-Matzura erarbeitet hat: Zum einen und eineinhalbten ist da der Text von Nora Mansmann, ein Auftragswerk, um das der Regisseur in Erinnerung an seine eigene, unter Demenz leidende Mutter gebeten hatte: Kurze, kleine Spielszenen aus dem Alltag einer Familie, die im eigenen Haus einen Alzheimer-Kranken pflegt, wechseln sich ab mit teilweise sehr poetischen Zwischentexten, die sich mit der Gedankenwelt der Kranken beschäftigen. Wir erleben Momente scheinbarer Erkenntnis, wir erleben friedliche Momente, aber auch den aufbrausenden, verärgerten Kranken, den seine Umwelt nicht mehr versteht – und den aufbrausenden, verärgerten Sohn, dessen Nervenkostüm durch die erforderliche pausenlose Konzentration auf den Kranken und dessen unvorhersehbare Reaktionen zum Zerreißen gespannt ist. Wir sehen die erbarmungswürdige Hilflosigkeit des Kranken, der gewaschen und gefüttert werden muss. Das kann unangenehm werden, aber dabei kann auch ganz intensive Nähe entstehen – die Waschung des nackten Vaters wird zu einer der berührendsten Szenen des Abends.
Immer wieder steigen die Schauspieler aus ihren Rollen aus; insbesondere Gerhard Roiss als Vater teilt mit uns seine Gedanken zum Thema. Mit diesen im lockeren Plauderton gehaltenen Sequenzen nehmen die Akteure dem Zuschauer das unangenehme Gefühl des Voyeuristischen. Das ist die eigentliche Leistung der Inszenierung: dem Text, der auch einen störenden Betroffenheitsgestus entfalten oder eben das Gefühl des voyeuristischen Zuschauens bei einer höchst privaten Situation hervorrufen könnte, jegliche Aufgesetztheit zu nehmen, die Distanz zwischen Akteuren und Zuschauern aufzuheben und sie zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema auf Augenhöhe zu führen. Dabei wird auch das schwierige und moralisch umstrittene Thema der Sterbehilfe oder der Selbsttötung vor Eintritt der vollständigen Unselbständigkeit nicht ausgespart. Die schauspielerische Leistung von Gerhard Roiss, einer unglaublich wachen, geistig beweglichen und interessanten Persönlichkeit, ist überragend: Wie realistisch er die verschiedenen Stadien der Demenz darzustellen vermag und wie selbstverständlich und sympathisch er die einzelnen Spielszenen wieder aufzulösen vermag, verrät eine große Fähigkeit zur Empathie.
Die letzte Ebene besteht aus der Reaktion und dem Input der Zuschauer. In der Mitte des knapp eineinhalbstündigen Stückes legen die Schauspieler eine Pause ein, reichen Nutella-Brot und griechischen Berg-Tee (der soll gut sein gegen das Vergessen: „Wenn’s stimmt, dann nützt‘s, und wenn’s nicht stimmt, schadet’s auch nicht“, sagt Roiss). Sie befragen uns nun nach eigenen Erfahrungen mit Demenzkranken. Zunächst herrscht peinliches Schweigen, doch die Schauspieler wissen auch dieses zu brechen. Sie erzählen von sich selbst und ihren Familien – und von Geschichten, die ihnen die Zuschauer vorangegangener Aufführungen erzählt haben – erschütternde Begebenheiten zum Teil. Das löst auch diesmal die Zungen, und als die Schauspieler beim nächsten Mal aus ihrer Rolle aussteigen, wagt der eine oder andere einen Kommentar. Und als nach dem Schlussapplaus die Zuschauer noch zu einem Kölsch oder einer Cola eigeladen werden, bleiben tatsächlich die meisten im Wohnzimmer der kleinen Altbauwohnung, und es entspinnen sich sehr ernsthafte Gespräche – über den Umgang mit pflegebedürftigen Eltern und Schwiegereltern, über den Tod und die Verarbeitung des Todes naher Angehöriger durch die Hinterbliebenen, über die Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren. Da geht es weit über das Thema des Abends hinaus.