Der Glaube an die Feuerwehr
Eine Explosion, eine Feuersbrunst, flüchtende Menschen – das Ende der unseligen Beziehung von Gottlieb Biedermann und den Hausierern und Brandstiftern Schmitz und Eisenring können wir uns schon in der ersten Szene angucken: als Endlosschleife auf dem Bildschirm des Fernsehers, der in Biedermanns Wohnzimmer steht. Biedermann schaut nicht hin. Er liest stattdessen Zeitung und klopft Stammtischparolen. Von Brandstiftern liest er auch. Aufhängen sollte man die alle.
Max Frischs Biedermann ist nicht, wie man manchmal liest, ein Kleinbürger. Er ist… sagen wir: zumindest gehobener Mittelstand. Ein Haarwasserfabrikant, der außer seinen Parfums scheinbar kein Wässerchen trüben kann. Der aber seinem entlassenen Angestellten Knechtling hinterherruft, er könne sich ja unter den Gasherd legen und, als dieser das denn getan hat, Knechtlings Witwe mit wegwerfender Geste bedeutet, er habe keine Zeit, sich mit Toten zu befassen. Das wirkt menschenverachtend, ist aber wohl eher die Reaktion des feigen, alle unangenehmen Wahrheiten verdrängenden oder leugnenden Spießers. Und deckt eine Schwäche von Frischs Stück auf, zumindest wenn man es heute, zwei Generationen nach Ende des Nationalsozialismus und in einer turbo-kapitalistischen Gesellschaft von Ich-AGs, betrachtet: Die Verhaltensweisen des erbarmungslosen Industriellen und Herrenmenschen vertragen sich nicht mit der im Drama den meisten Raum einnehmenden Naivität und Angst des bedingungslos angepassten Verdrängers. Denn Biedermann passt sich nicht an, um etwas zu erreichen, um Erfolg zu haben – er passt sich an aus Feigheit.
Dennoch kitzelt Marcus Mislin in seiner flotten, nur knapp 90 Minuten währenden Regiearbeit für das Staatstheater Mainz, mit dem dieses im Theater Duisburg gastierte, die gesellschaftskritischen Passagen des Stücks heraus, die Passagen, die die Standesunterschiede zwischen Familie Biedermann und den Brandstiftern thematisieren. Einmal gar macht Schmitz Bambule wie marodierende und demonstrierende Wutbürger, wenn er ein wüstes, wütendes „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ rappt und dabei wild auf den Benzinfässern herumtrommelt, die inzwischen Biedermanns Wohnzimmer zustellen.
Doch hat die Aufführung selbst keinerlei Wutbürger-Attitüde – sie ist im Gegenteil ein komödiantisches Kabinettstückchen mit großartigen Schauspielern. Gregor Trakis gibt den anpassungs- und verdrängungswütigen Spießer Biedermann mit dem beziehungsreichen Vornamen Gottlieb im Grunde als einen von uns – nur eine winzige Spur überdreht und ins Absurde verrutscht. Ihm zuzuschauen, bereitet Vergnügen und macht doch nachdenklich bezüglich unserer eigenen Verhaltensweisen. Großartig auch Verena Bukal als seine etwas zickige Gattin Babette, die einerseits die Wonnen des Luxuslebens genießt und nach dem Motto „Mehr Schein als Sein“ lebt, andererseits ihren Gottlieb an Spießigkeit und Konfliktangst noch übertrifft. Bukal und Trakis tragen den ironischen Gestus der Aufführung feinsinniger als die beiden Brandstifter, obwohl man Stefan Walz, den Brandstifter 1 und kräftigen Ex-Ringer Schmitz, fassungslos dabei beobachtet, mit welcher Selbstverständlichkeit er den unsicher-höflichen Biedermann mit raumgreifendem Auftreten, ausladender Gestik und enormer Chuzpe marginalisiert.
Im Verein mit der Bühnenbildnerin Ines Alda gelingen dem Team hübsche Bilder, die vor allem auf der Idee beruhen, bei jedem Szenenwechsel eine Vielzahl blauer Benzinfässer hereinzutragen, hinter denen die Einrichtung von Biedermanns guter Stube (der Dachboden ist gestrichen) mehr und mehr verschwindet – Christos „The Wall“ im Gasometer Oberhausen lässt grüßen. Ein riesiger Beerdigungs-Kranz wird angeschleppt – für den toten Knechtling gedacht, aber versehentlich dem Biedermann gewidmet und ein erstes Zeichen für die möglicherweise übersinnlichen Kräfte, die da walten. Als Schmitz gegen Ende den „Jedermann“ anstimmt und sich für den Salzburg-Touristen als Tod zu erkennen gibt, steht er aufrecht auf der Wand von Fässern, zu seinen Füßen der Kranz mit dem letzten Gruß an Gottlieb Biedermann – ein optisch reizvolles, interpretatorisch sinnfälliges Bild.
Mislin siedelt seine Inszenierung irgendwo zwischen absurdem Theater und Sartres Geschlossener Gesellschaft an. Wenn sich Schmitzens Kompagnon Eisenring als „Herr von der Feuerversicherung“ ausgibt, so wird schnell klar, dass diese Sozietät die beste Versicherung dafür ist, dass es Feuer geben wird. Es ist das Feuer der Hölle, das Schmitz und Eisenring über die Menschen bringen – die alte Interpretation, dass Mitläufer und Opportunisten wie Biedermann den Nationalsozialismus ermöglicht haben, verfängt fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg beim Zuschauer nicht mehr. In der Hölle, in der das umstrittene Nachspiel des Stückes stattfindet, fasst Mislin die sozialkritischen und gesellschaftspolitischen Aspekte der Inszenierung noch einmal zusammen, doch es stellt sich eben auch die Frage nach Gott und Tod und Teufel. Vielleicht in Sartres Sinne: Eisenring, nun eindeutig der Teufel, war im Himmel, doch er zweifelt, ob es der liebe Gott gewesen ist, den er dort getroffen hat. Die Kirchenfürsten da oben, so berichtet er, haben ihm jedenfalls keine Antwort gegeben auf die Frage nach Gott. Wie hatte Schmitz schon eingangs gesagt: „Die meisten Leute glauben heute nicht mehr an Gott. (Sondern) an die Feuerwehr.“
Manchmal helfen beide nicht mehr, weiß Biedermann nun.