Albträume
Katie Mitchell war wieder einmal in Köln, in der Halle Kalk. Damit stand von vorneherein fest: keine Bühnenaufführung üblicher Provenienz. Die englische Regisseurin hat eine ganz eigene Theatersprache entwickelt, vorrangig geprägt durch die Ästhetik des Films. Sie mischt reale Spielszenen mit Live-Videos und vorproduzierten Filmsequenzen. Das eigentliche Vorzeigeprodukt ist dann letztlich auch ein Film, in seiner introvertierten Machart freilich kaum für die große Leinwand geeignet, eher für den kleiner dimensionierten TV-Bildschirm, dramaturgisch ohnehin in Richtung „Das kleine Fernsehspiel“ zielend. Als Neuestes hat sich die Regisseurin Reise durch die Nacht von Friederike Mayröcker ausgesucht, eine Erzählung von 1984.
Es gibt kritische Stimmen, die fragen, ob Mitchells Arbeiten überhaupt für die Bühne geeignet sind. Aber Video/Film gehören längst zur modernen Theatersprache, die Regisseurin verdichtet das Ganze eigentlich nur. Außerdem hat sie sich inzwischen weiter entwickelt. Ihre erste Kölner Arbeit - Wunschkonzert von Franz Xaver Kroetz - kokettierte noch ein wenig mit der individuellen Machart, indem die Herstellung von Filmbildern und Geräuschen durch Schauspieler minutiös und stets sichtbar vorgeführt wurde. Für Wellen (Virginia Woolf) und Die Ringe des Saturn (W.G. Sebald) wurde Vordergründiges bereits gedrosselt. Bei Reise durch die Nacht sieht man die „Macher“ weitgehend nur noch als huschende Schatten. Das eigenwillige inszenatorische Prinzip dient Katie Mitchell nicht dazu, Realität zu beleuchten, sondern im Gegenteil die emotionale Wahrheit alltäglicher Vorgänge aufzudecken. Das gelingt über weite Strecken, diesmal besonders markant in der Szene, wo die Erzählerin ihren Partner während einer Zugfahrt bei der peniblen Morgentoilette beobachtet und sich über diesen „kerzengeraden Einspurmenschen“ mokiert.
Bei Reise durch die Nacht vermischen sich zunehmend die Zeitebenen. Das „Jetzt“ der nächtlichen Fahrt wird zäsiert von Erinnerungen der Protagonistin an Vergangenes, an Glück und Zwist in einem nicht ganz intakten Elternhaus. Die Autorin hat verschiedentlich Probleme ihrer eigenen Kindheit und im Umgang mit Alter und Tod eingestanden. Mit zunehmendem Alter (jetzt 88) haben sie nicht abgenommen. Andererseits, so Friederike Mayröcker, sei sie „erst mit Mitte 70 ein wirklicher Mensch“ geworden. Der Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl im Jahre 2000 hat ihre Lebensempfindlichkeit freilich nochmals belastet, das Schreiben bietet ihr Trost. Allerdings fühlte sie sich dazu schon als Kind manisch und egozentrisch angetrieben. Vorrangig achtet sie auf den „Klang der Worte“, weniger darauf, ob sie immer auch einen stichhaltigen Sinnzusammenhang ergeben.
Bei der Kölner Bühnenadaption von Reise durch die Nacht wurde zwangsläufig Text geopfert, so dass Friederike Mayröckers spezifische Prosasprache möglicherweise beschnitten wurde, was ohne Kenntnis des Originals aber nur mit aller Vorsicht gesagt sei. Als nicht „vorbelasteter“ Zuschauer empfindet man allerdings keine Defizite, die Lebenskrise der weiblichen Hauptperson wird nahezu körperlich schmerzlich erfahrbar. Das dankt sich freilich auch dem beklemmend intensiven Gesichtsausdruck von Julia Wieninger. Die Nähe der Figur zur Autorin der literarischen Vorlage unterstreicht Katie Mitchell übrigens dadurch, dass sie die Darstellerin immer wieder zu Stift und Papier greifen lässt, ein existenzieller Schreibdrang wie bei Friederike Mayröcker
Das Bühnenbild von Alex Eales ist ein langgestreckter Zugwagen, dessen Abteile gezielt heraus geleuchtet werden, doch vielfach auch verdeckt bleiben. Die Schauspieler neben Julia Wieninger sind eher Anonymi, übernehmen im Grunde nur funktionale Aufgaben innerhalb der Inszenierung. Alle Darsteller agieren stumm, der Text wird von Ruth Marie Kröger in einem der Abteile wie von einer Radiomoderatorin gelesen.
Die spezifische Inszenierungsform Katie Mitchells gehört zum Konzept der Intendantin Karin Beier, dem Kölner Publikum möglichst viele Regiehandschriften präsentieren zu wollen. Ihr Nachfolger ab 2013/14, Stefan Bachmann, dürfte vermutlich mit neuen Konzepten aufwarten.