Der Soundtrack einer sich selbst zerstörenden Menschheit
Vater, Mutter und sechs Familienmitglieder von Dorcy Rugamba wurden gleich am ersten Tag des ruandischen Bürgerkriegs im Jahre 1994 getötet. Rugamba, damals 24 Jahre alt, überlebte, weil er sich zufällig gerade 80 Kilometer entfernt von seinem Heimatort aufhielt. Heute spielt der Schauspieler beim International Institute of Political Murder – im Wechsel mit Diogène „Atome“ Ntarindwa, der beim Gastspiel im Apollo-Theater Siegen (die Premiere fand am 17. 11. 2011 im Memorial Centre Kigali statt) in dieser Rolle zu sehen ist - das Monster Kantano Habimana, den Chef-Ideologen und „bösen Hausclown“ des ruandischen Pop-Senders RTLM. „Hätte man ein einfaches und wirkungsvolles Ziel gesucht, um den Genozid in Ruanda zu verhindern, wäre der Radiosender RTLM ein guter Anfang gewesen“, schreibt der US-amerikanische Journalist Philip Gourevitch. Der beliebte Sender, dessen temperamentvolle, jugendlich wirkende Moderatoren schmissige Pop-Musik aus aller Welt, spannende Sportreportagen und politische Pamphlete mit an Zynismus nicht zu überbietenden Mordaufrufen mischten, war das Sprachrohr der Hutu-Mehrheit, die die vollständige Auslöschung der rebellierenden Tutsis plante.
Milo Rau und sein International Institute of Political Murder haben sich auf das Re-Enactment geschichtlicher Ereignisse mit Hilfe von Film und Theater spezialisiert und eine einstündige Hass- und Pop-Sendung von RTLM auf der Bühne nachgestellt – in verdichteter Form zwar, doch jede Szene, jeder Satz ist durch Interviews mit Hörern sowie den Machern der Sendung oder durch Ton- und Schrift-Dokumente belegt. Es ist eine Sendung aus der Endphase des Bürgerkriegs, als die mordenden Hutus in der ruandischen Hauptstadt Kigali von den vorrückenden Tutsi-Rebellen bereits weitgehend eingekesselt waren und die Propaganda des Senders auf dem Höhepunkt anlangte. Milo Rau stellt ausschließlich nach, was war – er kommentiert nicht, er wertet nicht. Das ist auch gar nicht erforderlich, denn es macht uns fassungslos, was wir sehen und hören. Es ist der erschütternde „Soundtrack einer sich selbst zerstörenden Menschheit“, wie es der Regisseur und Arrangeur des Abends selbst bezeichnet. Und ein erneuter Beweis für die Manipulierbarkeit des Menschen - wie schnell sich friedliche Nachbarn in Bestien verwandeln. - Neben dem DJ und einem militärischen Sicherheitsbeamten flegeln sich drei Moderatoren auf den Studiostühlen. Der Darsteller des Habimana ist der schauspielerisch eindrucksvollste unter ihnen: Mit rhetorischer Wucht, mit kalkulierten Ausbrüchen, dramatischen Appellen und zynischen Kalauern dröhnt er mit perfekter Modulation und raumfüllender Stimme seine Ungeheuerlichkeiten in den Äther – dass er dabei nicht nur Französisch (deutsch untertitelt), sondern auch Kinyarwanda spricht, eine sich dem Zuschauer nicht erschließende Bantu-Sprache, erhöht noch seine diabolische Wirkung. Welche Sprachmacht hat der Moderator, wenn er mit rauschartig sich steigernder Dramatik und Sprachmelodie die Liste der toten Tutsis vorliest! „Halleluja, die Tutsi sind vernichtet – Gott ist immer gerecht“, jubiliert er; er fordert einen 11jährigen Anrufer auf, der die Entdeckung von Tutsis in der Nähe seines Standortes meldet: „Alors, chassez-les – Jagt sie, die Kakerlaken!“ Selbst die Nachrichten-Sendung kann er nicht unkommentiert lassen: Als der Sprecher einen Flugzeugabsturz in North Carolina mit 19 Toten (politisch korrekt als „schlechte Nachricht“) meldet, springt er auf und macht lachend unflätige Bemerkungen. - Der teuflischen Faszination dieses verbalen Massenmörders kann man sich kaum entziehen.
Auch die anderen beiden Moderatoren-Darsteller sind von Frösteln machender Authentizität. Mit vor Erschütterung bebender Stimme wiegelt Nancy Nkusi alias Valérie Bémériki ihre Zuhörer auf mit der Schilderung echter oder erfundener Grausamkeiten der Tutsi-Armee, die natürlich ebenfalls nicht aus Klosterschülern bestand – es ist wohl mehr Ergriffenheit vor der eigenen sprachlichen Leistung als echte Erschütterung, die die mit blasphemisch wirkender Religiosität argumentierende Moderatorin bewegt. Ein besonders spannender Charakter ist der von Sébastien Foucault gespielte „weiße Hutu“, der Italo-Belgier Georges Ruggiu, durch ein zufälliges Treffen mit einem Hutu-Politiker ins Radio-Team gekommen und eine Art gewissenloser Söldner des Todes, der neben den üblichen Denunziationen, Morddrohungen und brutalen Scherzen für die „intellektuellen Analysen“ und die sexistischen Sprüche in dieser Völkermord-Mafia zuständig ist – ansonsten die perfekte Inkarnation eines aufgedrehten lockeren Popsender-Moderators auch er.
Zwischendurch spielt RTLM Popmusik – afrikanische, amerikanische, französische. Nirvanas „Rape Me“ für Bill Clinton und ugandischen Tutsi-Pop, ironisch kommentiert. Da gibt es Zeit für die Moderatoren, einen Schluck aus der Flasche oder eine Zigarette zu genießen – und dann bringen die drei wieder Hassreden, Spott und Zynismus über den Sender, spüren mit Hilfe der Zuhörer versteckte Feinde auf und koordinieren die Jagd nach ihnen. Verunglimpfen alle humanitären Helfer wie den „Ärzte ohne Grenzen“-Gründer Bernard Kouchner und die „Weißen, die Diener der Kakerlaken“: „Verlässt man sich auf die Weißen, dann frisst man Staub“, sagt Kantano Habimana einmal – und da hat er ausnahmsweise recht, wenn auch anders als gemeint: die Weißen, die UNO-Hilfstruppen zuvörderst, haben seinerzeit die Tutsis im Stich gelassen und dem Morden tatenlos zugesehen, sich verbarrikadiert oder das Land verlassen. Unverständnis äußert eine heute noch erschütterte Zeitzeugin darüber, dass die belgischen Blauhelme das von Beginn an auf Rassenhass und Vernichtung ausgerichtete Treiben von RTLM wissentlich toleriert haben.
Diese Zeitzeugen-Aussagen werden per Video jeweils circa 15 Minuten lang vor und nach der Radio-Sendung eingespielt. Wir mögen über uns selbst erschrecken, wie schnell wir beim Verfolgen des Radio-Re-Enactments abstumpfen – die 60 Minuten werden uns fast schon zu lang. Aber die ruhig, mit scheinbarem Blickkontakt ins Publikum vorgetragenen Berichte der Überlebenden können wir kaum ertragen. Die unfassbare Brutalität, die Folter, die die Opfer ertragen mussten, bevor sie getötet wurden, ist selbst einem Volk mit der grausamen Geschichte des tausendjährigen Reichs unbegreiflich. Selten rief ein Theaterabend so schnell tiefste Betroffenheit, ja fast körperlichen Schmerz im Publikum hervor wie diese überraschend zum Berliner Theatertreffen 2012 eingeladene Produktion, die zu Recht durch ganz Europa tourt.
Natürlich sind wir neugierig, was aus den drei zynischen Moderatoren geworden ist. Valérie Bémériki ist zu lebenslanger Haft verurteilt und hat mit ihren Erinnerungen zu dem naturgetreuen Re-Enactment beigetragen; echte Reue scheint sie nicht zu empfinden. Kantano Habimana ist untergetaucht. Und Georges Ruggio wurde im Jahre 2010 aus der Haft entlassen, konvertierte zum Islam und wurde zuletzt vor circa einem Jahr in Pakistan gesehen. Wir ahnen, was er dort tut. Entsprechend pessimistisch endet die Aufführung mit dem Gedanken eines Überlebenden: “Wenn es einen Genozid gegeben hat, dann wird es noch viele geben.“ Die Geschichte hat es bislang bewiesen.
Ergänzend zum Thema sei empfohlen:
„Hate Radio“, eine literarische Dokumentation von Milo Rau, Verbrecher-Verlag 2012
„Hotel Ruanda“, Drehbuch und Regie Terry George, Großbritannien / Südafrika / Italien 2004, FSK ab 12 Jahren (DVD bei Universum)
„Hundert Tage“, Roman von Lukas Bärfuss, Wallstein Verlag 2008 (gebundene Ausgabe) oder btb 2010 (Taschenbuch)