Übrigens …

Iphigenie auf Tauris im Aachen, Theater

Konsequente Haltung

Wenn man an eine Utopie nicht glauben kann, kann man sie nur schwer spielen. Dass aber in Goethes idealistischem Ideendrama eine große Utopie steckt, zeigen jetzt der Regisseur Jörg Reimer und sein Ensemble – glasklar und sehr intensiv.

Die Raumbühne im Mörgens, der Studiobühne des Theaters Aachen, ist leer bis auf vier Stühle am Rand für die Schauspieler und eine einsame weiße Pyramide, Henkersblock und Kultstätte in einem. Wie kann ich „gut“ sein? Die Frage hallt unhörbar, aber klar verständlich durch diesen Abstraktion geradezu einfordernden Raum. Indem ich mich verständige, den anderen respektiere, gefühlte Pflichten nicht absolut dem eigenen Freiheitswillen unterordne. Das behauptet Goethe mit seiner schwer greifbaren Hauptfigur. Emilia Rosa de Fries findet dennoch einen Menschen. Schon das verträumte Lächeln beim berühmten „das Land der Griechen mit der Seele suchend“ öffnet einen Zugang zu einer sanften, traumatisierten aber ungeheuer klugen und starken Frau. Diese Iphigenie erscheint, wie alle Figuren, geerdet und lebensecht, wird aber eher gezeigt als gespielt. Immer wieder vergewissern sich die Schauspieler der Theatersituation, fixieren das Publikum, lösen Lichtwechsel und Toneinsätze explizit aus. Sie sprechen das Publikum direkt an, versuchen es auf ihre Seite zu ziehen. Dies gelingt scheinbar Rainer Krause besonders gut, der seinen nicht sehr barbarischen König im Spannungsverhältnis zwischen weinerlichem Hagestolz und wildem Mann ansiedelt. Zum Schlussapplaus formieren sich „Thoas“ – Sprechchöre aus einer Schülergruppe.

Jörg Reimer formt aus Goethes Stichomythien, den einzeiligen, antiken Dramen nachgestalteten Wechselreden, spannende Minidramen und hält auch die Monologe auf hohem Energielevel, ohne die Trommelfelle der Zuschauer zu strapazieren. Wie von selbst wird so Iphigenies große Atridenerzählung zum Mittelpunkt des Abends. Das größtenteils junge Publikum lauscht der greuelvollen Geschichte nahezu atemlos. Das „vorläufige Endergebnis“ des Familienfluchs, den Muttermörder Orest, spielt Karsten Meyer als Trinker, sehr männlich und sehr antriebslos, nur kurzfristig belebt durch die unerwartete Begegnung mit der Schwester. Ihm zur Seite steht Thomas Hamm als dumpf-bauernschlauer Pylades. Arkas, den Adjutanten des Königs, wertet die Inszenierung erheblich auf – und vertraut sie demselben Schauspieler an. Hamm zeigt einen eleganten Politprofi mit weißem Schal, der die Ideologie des Taurerstaates aus sich heraus vertritt: Stabilität und Machterhalt der Herrschenden wird gewährleistet durch die Suggestion ewig währender Bedrohung von außen, ein gedachtes Meer von Feinden, eine durchaus zeitgemäße Anmutung. In dem Moment, da das System angekratzt zu werden droht – Thoas und Orest beginnen sich zu verständigen – erschießt Arkas, nicht von Goethe gedeckt, beide, dazu die vermittelnde Iphigenie - und die so schön präsentierte Utopie gleich mit. Dann setzt er sich, endet mit dem Schlusssatz aus Brechts „An die Nachgeborenen“ – man wittert fiese Ironie – und macht das Licht aus.

Der Abend besticht durch genaue Arbeit an und mit der komplexen Sprache Goethes und Mut zur Haltung. Diese aber, eine, auch und besonders auf „schwere Zeiten“ gemünzte, fast schon verzweifelt pauschale Absage an ethisch motivierte Visionen mit halbgar angeklebter Entschuldigung, lässt den Zuschauer durchaus ratlos zurück.