Übrigens …

Sandmann im Bielefeld, Stadttheater

Gibt es eine dunkle Macht...?

Überall scheint er zu lauern – der Dämon, der den biederen Bürger in seiner verstandesorientierten Welt gefährdet, ihn aus seinem alltäglichen Bewusstsein in eine geistig-magische Sphäre reißt, die ihm irreal und verborgen erscheint. So ergeht es auch Lothar, der mit ansehen muss, wie sein bester Freund Nathanael immer wieder dem Wahnsinn verfällt und letztlich dem Tod geweiht ist.

Thomas Winter hat E.T.A. Hoffmanns Schauermärchen vom Sandmann am Theater Bielefeld als Solo-Abend für die Bühne eingerichtet, ihm mit der Figur des Lothar als alleinigen Protagonisten ein anderes Gesicht gegeben und das Werk gemeinsam mit Kapellmeister und Repetitor Christian van den Berg auf eine noch stärkere emotionale Ebene gehoben – mit Ausschnitten aus Jacques Offenbachs Phantastischer Oper Hoffmanns Erzählungen. In einer solch kongenialen Verknüpfung ist das Werk bisher noch nicht inszeniert worden. Mittels dreier gelesener Briefe und einer szenischen Erzählung schlüpft Schauspieler und Sänger Dirk Mestmacher in die Rolle des Lothar. Die teils nur motivisch angedeuteten Versatzstücke aus der Oper – einleitend und schließend mit einem „Preludio“ – sollen indes weniger instrumentale und sängerische Glanzpunkte setzen als vielmehr die jeweilige Stimmung der Szenen musikalisch verstärken. Daher singt Mestmacher (Tenor) nur selten aus, sondern lässt seine Stimme nahezu im Sprechgesang verbleiben, der mit zerbrechlichem Tremolo den seelischen Zustand emotionaler Erregtheit Lothars geradezu wie dafür geschaffen wiedergibt. Dabei nimmt die Musik nicht nur eine untermauernde, sondern oft auch eine – textlich wie auch in ihrem Affekt – kontrapunktierende Rolle ein – die Grenze zwischen Realität und Wahn verschwimmt also umso mehr, der Zuhörer wird – gemeinsam mit Lothar – ein ums andere Mal mit- und wieder herausgerissen.

Die Geschichte vom Studenten Nathanael, der verliebt und verlobt ist mit Lothars Schwester Clara und der seine alltägliche Welt – genährt von der traumatischen Sandmann-Mär seiner Kindheit, in der sich Figuren seiner Gegenwart wieder finden – scheinbar „aus den Augen“ verliert, wird nicht nur komprimiert nacherzählt, sie fokussiert sich letztlich auf die Beziehung zwischen Lothar und seinem sensiblen Freund und „Bruder“. Immer wieder scheint Lothar die längst zum eigenen Trauma gewordene Geschichte (s)einer Machtlosigkeit erzählen zu müssen, um sie verarbeiten zu können und zumindest für einen Moment im Griff zu behalten. Nach und nach – zunächst mittels dreier gelesener Briefe, dann in freier (Nach-)Erzählung – bringen Lothars gesprochene Worte und die musikalischen Motive einzelner Lieder, Arien, Chöre und instrumentalen Passagen aus Hoffmanns Erzählungen Farbe und Transparenz in das anfangs umrissene Bild von Nathanael und seinem Trauma vom Sandmann in Gestalt Coppolas. Auch Hoffmanns Augen-Motiv spielt selbstredend auch in Winters Bearbeitung eine wesentliche Rolle – er setzt es mit einigen irritierenden wie magischen Momenten effektvoll in Szene. Unablässig und mit einigen wenigen aussagekräftigen Requisiten werden Augen, Ohren und Sinne des Betrachters in das emotional aufwühlende Geschehen mit hineingezogen. Das liegt neben Winters neuartiger Umsetzung des komplexen Stoffes an Dirk Mestmachers intensiver Bühnenpräsenz, Körpersprache und Textausdeutung sowie Christian van den Bergs subtiler pianistischer Ausleuchtung, die den Zuschauer an einem motivisch versponnenen roten Faden durch die fesselnde Geschichte führt und ihn, wie Lothar, am Ende seinem – nathanaelesken – Schicksal überlässt. Schlichtweg grandios!