Frischer Klassiker
Jean-Claude Berutti erzählt die traurige Geschichte einer an Machtgier und Statusdenken scheiternden großen Liebe so eindringlich, dass jeder Zuschauer begreifen muss, dass Kabale und Liebe heute nicht nur gespielt wird, weil es auf der Literaturliste für das Zentralabitur 2014 steht.
Die Klarheit der Inszenierung spiegelt sich in der Bühne von Rudy Sabunghi: Holzboden mit Schachbrettmuster; Wandelemente, die von hinten nach vorne fahren und Spielorte konkretisieren, soziale Befindlichkeiten andeuten; im letzten Akt bühnenbreit die Wohnung Miller mit scheußlicher Tapete und niedlicher, hölzerner, unerbittlich tickender Wanduhr.
Entscheidender Umschlagmoment der mehr als solide gearbeiteten Aufführung ist das Finale des zweiten Aktes, Ferdinands berühmter Ausspruch, er wolle „eine Geschichte erzählen, wie man Präsident wird“. Vorher dominieren eindeutig Vater und Sohn von Walther. Axel Holst besticht als gnadenlos charmanter, zügelloser Politprofi, als Glücksspieler, der stets nur um den nächsten Schritt zu Machterhalt und -zuwachs pokert. Christoph Jöde hält den Ferdinand zunächst weit weg vom idealistischen Jüngling. Er trägt seinen gesellschaftlichen Status blasiert spazieren wie seinen teuren blauen Pullover, ja, er fühlt sich „seinen Leuten“ sogar überlegen, weil die Liebe zu Luise seinem Leben ein Gesetz gibt. Nach der großen Konfrontation von Vater und Sohn verschwimmen die vorher so scharf umrissenen Figuren. Jöde exekutiert seinen Eifersuchtsmonolog pauschal und laut mit dem Brief in der Hand und die sardonische Ironie von Holsts Präsidenten wirkt auf einmal tastend, fast hilflos. Auch Axel Becks Miller, vorher bramarbasierender Spießer mit liebenden Herzen schnurrt zum eigenschaftslosen Vater zusammen. Und es wird zunehmend gerangelt. Was die Wörter nicht mehr fassen können, müssen die Körper versuchen. Ob diese Erosion gewollter Teil des Regiekonzepts ist oder sich schlicht ereignet… In jedem Fall regiert jetzt Uwe Rohbeck als Sekretär Wurm. Er hat so gar nichts hündisch-Verschlagenes an sich, eher eine so brillante wie sachliche Beharrlichkeit. Als er die tote Luise umarmt, weiß man zunächst nicht einmal: War es Liebe oder ist es Nekrophilie?
Das Objekt seiner Leidenschaft, Luise, wird durch Bettina Lieder immer stärker zum Zentrum der Aufführung. Die Erschütterung der Lady Milford (sehr souverän: Caroline Hanke) über ihre Kraft und Ausstrahlung war wohl selten so nachvollziehbar wie in der Dortmunder Aufführung. Im Gegensatz zu Ferdinand wächst Luise diese Kraft aus ihrer Liebe zu und ermächtigt sie zu selbständigem Handeln, ohne dabei ihre Bindungen und Lebensbedingungen zu verneinen.
Schönes auch in den Nebenrollen: Sebastian Kuschmann macht aus dem Kalb einen ganz normalen, nicht unattraktiven Mitläufer, Friederike Tiefenbacher spielt die Mutter, deren Geschwätzigkeit die Tragödie auslöst, grenzdebil, aber nicht unsympathisch und Jürgen Mikol verleiht den Anklagen des Kammerdieners Autorität und Authentizität.
Das vorwiegend aus Schülern bestehende Publikum sah konzentriert zu und erwies sich als gnadenloser Seismograph. Wenn Ferdinand am Endes des zweiten Aktes mit einer Pistole herumfuchtelt, wenn zu viel gebrüllt, zu viel gerangelt, die Handlungsführung mal kurz vernachlässigt wird, wird gelacht und getuschelt. Heftiger Applaus am Ende – vor allem für das junge Paar und den aus dem Fernsehen bekannten Kammerdiener.