Max und Moritz an der Pommesbude
Auf arte fand am gleichen Abend die TV-Premiere von Lars Beckers jüngstem Film „Geisterfahrer“ statt. Da bewahren die Tobias Moretti und Fahri Yardim ein Kind vor dem Erstickungstod, dem beim Genuss einer Maxi-Packung Chicken Wings ein Flügel im Halse stecken blieb. Hätten Max und Moritz diesen Film nur rechtzeitig geguckt: Vielleicht hätten die Unholde dann schon nach dem zweiten Streich die möglichen letalen Folgen ihrer Übeltäterei erkannt und wären auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt. Stattdessen sehen wir sie in Gestalt von Johan Leenders und Taner Sahintürk an der Imbissstube stehen, genüsslich einen Hähnchenbollen knabbernd. „Und vom ganzen Hühnerschmaus guckt nur noch ein Bein heraus…“
Zu diesem Zeitpunkt herrscht schon Stimmung auf den Rängen der „Kleinen Probebühne“ des Düsseldorfer Schauspielhauses. Offensiv spielt Taner Sahintürk mit seinen Zuschauern; er gibt dem Affen Zucker und dem Spitz sein Chappi: Tatsächlich findet er nicht nur eine Zuschauerin, die ihm die Dose mit dem Hundefutter öffnet, mit der das von Witwe Bolte fälschlich als Hühnerdieb beschuldigte Vieh getröstet werden soll, sondern auch einen wagemutigen Herrn, der es auf Verträglichkeit testet: „Nicht dass der Hund umkippt!“ – Später werden ein paar Flaschen Bier im Publikum verteilt, eine Sammeldose geht herum, von deren Inhalt die bravourösen Schauspieler hoffentlich ausreichend Nachschub für die Premierenfeier finanzieren können, eine Brille wird ausgeliehen, um die Lehrer Lämpel zugeschriebene Weisheit auch optisch beglaubigen zu können, und mitten in der Aufführung telefoniert Sahintürk mit einer ahnungslosen Angestellten des Hauses: Max und Moritz’ Neben-Streiche eben….
Dabei wird in der weniger als 45 Minuten kurzen Aufführung im Wesentlichen nur der Original-Text der „Bubengeschichte in sieben Streichen“ gesprochen. Taner Sahintürk tut das meist expressiv und laut und in ständiger Interaktion mit dem Publikum und den Requisiten – besonders wirkungsvoll sind dann natürlich gelegentliche lakonische Momente oder die Karikatur des spießigen Möchtegern-Intellektuellen Lämpel, mit denen er die sonstige aufgedrehte Spielweise kontrastiert. Johan Leenders ist zurückhaltender; er begleitet die Angelegenheit am Piano, gibt mit weicher, bisweilen an Georgette Dees Begleiter Terry Truck erinnernder Stimme Stichworte und übernimmt mit großer Variabilität und hintergründigem Humor die direkte Rede vieler Figuren aus den kurzen Busch-Moritaten. Bilder werden an die Wand projiziert, auf denen wir die beiden M&M-Darsteller draußen im Park beim Genuss oder der Vorbereitung ihrer Streiche sehen – an der Pommesbude eben oder beim Abschuss einer Silvester-Rakete, die für das Pulver in Lehrer Lämpels Pfeife steht. Auf Flipchart-Papier malt Sahintürk kleine Symbole seiner Untaten, und Leenders stellt seine großartigen Fähigkeiten als Geräuschemacher unter Beweis.
Nach und nach, so hat man den Eindruck, nimmt die Darstellung der Streiche an Furiosität, aber auch an Krassheit zu. Das Düsseldorfer Schauspielhaus, durch manche Eltern-Beschwerden beim Jungen Schauspielhaus vorsichtig geworden, gibt die Aufführung „ab 16 Jahren“ frei. Nun ja, ganz versteckt wird einmal eine mögliche pädophile Neigung bei Onkel Fritz angedeutet; diese Andeutung versteht ein Kind aber noch nicht. Das Ende allerdings mag tatsächlich manch zart besaiteten Kleinen erschrecken. Es naht in einer alten Kaffeemühle, aber was für markerschütternde Geräusche sind es doch, wenn diese – rickeracke – Max und Moritz mit Geknacke zum Futter für Meister Müllers Federvieh verarbeitet. Da spuckt Max Taner Moritztürk Blut aufs Flipchart-Papier. Für die Kleinen wäre das schon reichlich hart.
Doch beim erwachs’nen Publikum geht im ganzen Raum herum ein sehr freudiges Gebrumm. Nach sechs langen Jahren hat das Düsseldorfer Schauspielhaus mit dieser Aufführung den engen Kellerraum seiner „Kleinen Probebühne“ wieder fürs Public Viewing geöffnet, um in dieser intensiven Atmosphäre jungen Assistent(inn)en die Gelegenheit zu geben, erste eigene Regie-Erfahrungen zu sammeln. Nele Weber hat gleich zum Auftakt einen Abend mit Kult-Potential geschaffen.